Wir Glücklichen, zehn Tage frei: Das verspricht hochprozentige Action. Im Westen öffnet sich ein Sonnenfenster. Ohne mit der Wimper zu zucken packen wir also unsere sieben Sachen (und noch ein bisschen mehr) und rammeln den Bus bis obenhin voll.
Wir biegen über den Großen Sankt Bernhard in den Süden ab, um im Aostatal die weniger überlaufene Seite der Walliser Alpen zu entdecken. Zuerst wollen wir der kleinen Schwester des Matterhorns einen Besuch abstatten. Was, die kennt ihr noch nicht?
- Gestatten: die Dent d'Hérens. Mit ihren 4174 ist sie die kleine Schwester des höheren Hörnlis. Aber verstecken braucht sie sich auch nicht! Sie ist ganz schön ausgewachsen. Hat scharfe Grate, steile Flanken, elegante Linien. Bergsteiger-Herz, was willst du mehr? An einem anderen Fleckerl Erde hätte diese scharfe Braut ein Alleinstellungsmerkmal. Aber weil sie Schulter an Schulter neben ihrem berühmten Bruder thront, dem Matterhorn, steht sie doch in seinem Schatten und verliert an Begehrtheit. Wie oberflächlich die Menschen heutzutage doch sind ;) Nichts wie hin!
Im Aostatal werden wir freundlich, nun ja, wir werden begrüßt. Die Kuh lebt mit ihrer Herde in Bionaz. Das ist der Ausgangspunkt für die Dent d'Hérens. [Do dhero] oder so irgendwie spricht man sie übrigens aus.
Nach dem Meet&Greet mit dem Cowboy machen wir uns mutterseelenalleine zum Rifugio Aosta auf. Die ersten Kilometer satteln wir entlang des Lac de Place unsere Bikes. Danach geht's ein wildes, ausgeapertes Gletscherbecken empor, bis wir uns bei den drei Wirtsleuten in der Aostahütte wiederfinden.
Mancher ihrer Sorgen dürfte sich in Rauch aufgelöst haben, was wir gleich eingangs einem zarten Duft von Verr(a)uchten entnehmen können. Mit bester Stimmung nehmen sie sich unser an. Ein selbstgebrannter Genepi - dürfte bei den Aostatalern so begehrt sein wie bei uns der Zirbenschnaps - beruhigt den Magen nach einer leckeren Überdosis Futterzufuhr. 45 Euro für die Halbpension wirken wie ein Schnäppchen dem Preis gegenüber, der für das Matterhorn fällig würde über dessen Normalweg. Nämlich mehr als das dreifache... Doch zurück zur Schwester: Am nächsten Tag wird bei unserem Annäherungsversuch kein strahlend blauer Himmel versprochen. Wohl ein Mitgrund, warum wir hier die einzigen sind.
Es ist drei Uhr früh, eine Stunde sind wir schon am Weg über die Schuttmoräne bis auf den Gletscher des Grandes Murailles. Das Wetterleuchten in der Ferne ist wieder verflogen. Dafür prasselt der Regen aus allen Richtungen auf uns nieder. Die Spurarbeit ist tief.
Umdrehen?
Noch ein paar Schritte.
Jetzt umdrehen?
Der Wind ist umwerfend. Aber noch ein paar Schritte, bis wir ins Tiefmattenjoch sehen. Diese berüchtigte und brüchige Einstiegshürde auf den West-Grat. Und siehe da! Zumindest für einen kurzen Augenblick weht der Wind noch stärker, dass er die Schönheit enthüllt und zumindest die Wolken kurz vorbei schiebt. Na gut, noch ein paar Schritte.
Es muss ja nicht immer schön sein. SONNE!? Wo bist du?
Wie jetzt!? Oben? Wie aus heiterem Himmel geht's auf einmal nicht mehr weiter aufwärts. Plötzlich sind wir da! Hurra!
Hier würden wir jetzt also endlich dem berühmten Bruder auf die kalte Schulter blicken. Ähhhhhm!?
Egal, Schwesterherz! Wir finden's hier super. Wirklich :-)
Und jetzt?
Auf nach Chamonix. Die Aiguille Verte verspricht gute Verhältnisse. Und zu diesem wilden, beeindruckenden Flecken Erde kehre ich gerne zurück. Das Panorama vom Refuge Couvercle ist dermaßen genial, als säße man auf einem Logenplatz in einer Arena für Alpinisten. Der Name der Hütte heißt übersetzt Deckel - weil das alte Refuge unter einem riesengroßen Boulderblock errichtet worden war. Von hier blickt man in die faszinierenden Wände der Grande Jorasses. Hinüber zum Mont Blanc und den vorgelagerten wilden Zacken des Teufelsgrates, der Aguilles, so vielen steilen Zacken und genialen Graten, auf denen die besten Alpinisten ihre Geschichten schrieben.
Vom Mont Blanc aus betrachtet wirkt die Aiguille Verte wie eine unnahbare, steile Pyramide, formschön und anspruchsvoll zugleich. Einmal durfte ich bereits auf dieser "Grünen Nadel" stehen - für Andi soll es das erste Mal werden. Darüber hinaus wollen wir noch der Nachbarin, der Grande Rocheuse, einen Besuch abstatten. Außerdem wird's Zeit, dass Andi ein "echter Alpinist" wird. Hehe. Der großartige Gaston Rebuffat hatte über die Aiguille Verte besagt:
Avant la Verte on est alpiniste, à la Verte on devient Montagnard.
Nach der Verte werde man also zum Alpinisten. So so.
Um Mitternacht zweifeln wir an unserem Verstand. Nur zweieinhalb Stunden nach dem Sonnenuntergang sitzen wir beim Frühstück. Stopfen uns ein paar Bissen Brot in den Mund. Und ziehen verschlafen los im Schein unserer Stirnlampen. Die Dunkelheit ist noch da, als wir uns im Einstieg zum Whymper Couloir befinden. Das ist vielleicht auch gut so, dass wir nicht alles genau sehen. Den wilden Bergschrund. Den Felsaufschwung, mit einer dünnen Eisglasur überzogen.
Dazwischen erleichtern immer wieder gute Spuren den Anstieg in der 500 Meter hohen Rinne - zwischen 45 und 55 Grad steil - erheblich. Um fünf Uhr früh, nach zweieinhalb Stunden Frontalzacken-Feeling (Servus, die Wadeln!) stehen wir am Ausstieg des Couloirs. Erst jetzt beginnt der Tag. Der Horizont färbt sich leicht orange. Wir klettern erst noch auf die Grande Rocheuse, während zwei weitere Seilschaften den scharfen Grat auf die Verte unter die Eisen nehmen. Kurz und knackig wird unser Abstecher auf den Nachbar-Viertausender. Die Finger sind klirrkalt. Nun geht die Sonne auf und taucht die vorbeiziehenden Nebelschwaden in intensivere Farben, als eine Orange je im Supermarkt-Neonlicht strahlen könnte. Alles leuchtet um uns! Wir frieren. Und freuen uns.
Nach einem halb freihängenden Abseilmanöver sind wir retour im Col de la Grande Rocheuse. Die wenigen Schritte hinüber auf die Aiguille Verte sind atemberaubend und abgrundtief zugleich. Schmal schlängelt sich der Firngrat auf ihren höchsten Punkt. Dort gibt's eine feste Umarmung, die Zeit steht still. Der Blick schweift in alle Himmelsrichtungen. Aber bald wieder zurück in das Couloir. Wir wollen es verlassen haben, ehe die Sonne als Weichspüler einwirkt und die Steine rumpeln lässt. Eine Zweier-Seilschaft überholen wir bei einem von gefühlten zehn Abseilmanövern. Schnelligkeit heißt in diesem Fall Sicherheit.
Gut, dass es beim Einstieg stockfinster war: Wirklich einladend sieht das Couloir nicht aus. Aber umso beeindruckender, wenn man wieder sicheren Boden unter den Füßen hat. Um 11 Uhr vormittags sind wir retour bei der Couvercle-Hütte. Als "echte Alpinisten", Monsieur Rebuffat, und einem weiteren Abenteuer, das uns ewig in Gedanken begleiten wird.
Und jetzt?
Auf zum Allerhöchsten! Zu einer Tour, die Andi schon ewig vorschwebt. Vom Tal aus wollen wir dem Allerwertesten auf sein Haupt steigen. Über die schönsten und malerischsten Linien, die selbst nur ein Leonardo Da Vinci oder Picasso in die Landschaft zeichnen könnten. Domes de Miage, Aiguille de Bionassay und Domes de Gouter lauten die Zwischenziele auf dem Weg zum Mont Blanc. Drei Tage bei herrlichstem Wetter nehmen wir uns dafür Zeit.
Von Saint Gervais les Bains starten wir spät nachmittags auf die Conscrits Hütte (welch Wunderwerk der Technik!). Wieder früh morgens (also mitten in der Nacht) geht's im Gänsemarsch mit vielen anderen Bergsteigern über die scharf gezeichneten Grate der Domes de Miage.
Wir kommen nicht mehr aus dem Staunen. Spätestens, als wir von einer gewissen Madame Manon Navillod Davoine freundlich begrüßt werden, sind wir ganz hin und weg. Und unsere Befürchtungen werden zerstreut. Manon, geschätzt am Anfang ihrer 30er, verbringt den Chamonix-Sommer lang (also drei Monate) alleine hier in diesem hintersten Mont-Blanc-Winkel. Und verpflegt alle Bergsteiger, die auf den 15 Lagerbetten Platz haben. Richtet in aller Herrgottsfrüh (ihr wisst schon, mitten in der Nacht) das Frühstück. Hat selbst nur eine halbe Matratze zum schlafen. Falls sie dazu überhaupt kommt. Wann sie denn schläft? "Wenn das Wetter schlecht ist", sagt sie. Das kann dann wochenlang so sein. Oder tagelang eben nicht. Schon vormittags kommen die ersten Gäste. Wollen verpflegt werden. Mit Spaghetti Cabonara. Frischem und köstlichem Kuchen. Sie bäckt sogar das Brot selbst. Zaubert aus allem, was hier oben längere Zeit haltbar ist, etwas Frisches. Der Hubschrauber kommt zweimal in der Saison. Zu Beginn - und bringt mittendrin Nachschub.
Sie selber kommt gar nicht weg. Links und rechts pfeift es über wilde Gletscherflanken hinunter. Vorne und hinten geht's auf steilen Graten aufwärts. Im Freien steht das Plumpsklo. Das hat aber meistens von unten eisigen Aufwind. Mit Augenzwinkern sagt sie (und meint das ernst):
Wenn ihr nicht auf das WC wollt, geht bitte nach Italien in die Felsen.
Aus dem Schnee auf der französischen Seite der grenzwertigen Hütte wird nämlich Trinkwasser. Also jenes, das sie aufkocht. "Und ihr wollt doch nicht, dass wir alle Durchfall bekommen."
Auf dem einzigen Holztisch mitten im Mini-Verschlag haben nur acht Leute Platz. Wir sind heute überfüllt und essen im Schicht-Betrieb. Weil wir zuerst auf der Hütte ankamen, durften wir auch in der ersten Gruppe Abend essen und frühstücken. Denn spätestens vor der Schlüsselstelle auf die Bionassay käme es ohnehin wieder zu Wartezeiten. Also lässt sie die vermeintlich Schnelleren voran.
Um zwei Uhr früh steht Manon mit der Stirnlampe in der Fünf-Quadrat-Meter-Küche und bereitet alles vor. Eine halbe Stunde später ist von der selbstgemachten Marmelade bis zum Brot alles aufgetischt. Was sie den Rest des Jahres macht? Im Herbst mal ausspannen, im Winter Skilehrern und im Frühling auf einem Schiff in Norwegen kochen. Die Frau steht auf abgelegene und besondere Plätze. Eine irre Braut! In Wahnsinns-Lage!
Schritt für Schritt wird das kleine Licht der Durier-Hütte immer kleiner. Ein paar Seillängen geht's gesichert durch Kamine, über Steilstufen und kombiniertes Bruchgelände.
Auf der Aiguille de Bionassay geht die malerisch schöne Linie weiter: Für uns ist es wohl einer der schönsten Firngrate der Alpen, der zum Dome de Gouter führt. Schneidiger als so manch stumpfes Messer in unserer Küche.
Blick zum Höhepunkt unserer Reise: da herrscht bereits reger Betrieb auf dem Mont Blanc.
Es ist 8 Uhr Vormittag auf dem flachsten aller Viertausender-Gipfel, dem Vorbei-Geh-Hügel Dome de Gouter. Wir haben noch genügend Zeit und Kraft, um die gut 500 Höhenmeter auf den Mont Blanc anzugehen.
Wie auf einer Autobahn düsen wir auf dem Bossesgrat nach oben. Eingelegt haben wir den ersten Gang, denn schnell geht in dieser Höhe nichts mehr voran. Dem Gegenverkehr weichen wir in die zweite oder dritte Spur aus. Und könnten jubeln vor Freude, als wir schließlich eine Viertelstunde mutterseelenalleine auf diesem Gipfel stehen dürfen, auf dem zuvor die Rush Hour herrschte mit bestimmt mehr als 200 Bergesteigern an diesem Tag. Unglaublich.
Nichts liegt noch höher in diesem Moment - so weit das Auge reicht. Nur das Herz, das schlägt noch höher.
Dankbarkeit begleitet uns nach Hause. Zufriedenheit. Ein Hochgefühl, das auch auf dem Berg voll Arbeit im Büro noch anhält. Zumindest so lange, bis wir unsere Gedanken und die Sachen nach der Dent Grande Verte de Aiguille Verte Blancheuse wieder sortiert haben. Weil man so hoch oben ja gleich wieder so viele neuen Ideen und Ziele entdeckt :)
Credits:
hochzwei.media | Marlies Czerny und Andreas Lattner