View Static Version
Loading

Das etwas andere Richtfest „Luftige Schlösser und konkrete Utopien“

Text: Eva Eß; Fotos: Nicolai Eckert; Layout: Nico Talenta.

Betreten erwünscht:

Ein Kunst- und Kulturfestival zieht in die Baustelle der Weinburg in Radolfzell ein.

Auf der Baustelle in Radolfzell ist am letzten Freitag einiges geboten. Es sind zahlreiche Bierbänke und Sonnenschirme aufgestellt und in der Mitte des Geschehens steht eine Bühne. Es wird getrunken und gelacht, viele Helferinnen und Helfer schwirren wie fleißige Bienchen in alarmierendem Gelb umher und versorgen die eintreffenden Gäste. Nach kurzer Zeit sind die Füße bereits voller Staub. Interessierte Blicke wandern zu einem der Zimmermänner, der auf einem Balkon steht. Er trägt einen großen schwarzen Hut und ein rotes Tuch um den Hals. Mit erhobenem Weinglas trägt er den Richtspruch vor. Anschließend trinkt er den Wein und zerbricht das Glas. Das soll Glück bringen und ist auf einem Richtfest Tradition.

Der Vorstand der Baugenossenschaft HEGAU eG Axel Nieburg begrüßt alle Beteiligten zu diesem Spektakel, das er mit den Worten „Richtfest mal anders“ beschreibt. Denn neben dem üblichen Angebot an Essen und Getränken, um sich bei allen beteiligten Handwerkern zu bedanken, zieht für einen Tag auch ein Kunst- und Kulturfestival in den Rohbau auf der Weinburg ein. Unter der Lenkungsgruppe von Julia Ihls, Sofie Benning und Jeremias Heppeler zeigen junge Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, der Schweiz und Österreich ihre Projekte im Rahmen des Wettbewerbs „Luftige Schlösser und konkrete Utopien“.

Dass es sich auf der Baustelle um kein gewöhnliches Richtfest handelt, fällt den Besucherinnen und Besuchern spätestens auf, als der Richtkranz aufgehängt wird. Denn dieser besteht nicht wie üblich aus Tannenzweigen oder sonstigem Strauchwerk, sondern schmückte sich mit allerlei verschiedenen Baumaterialien, die an überdimensionale Stecknadeln oder leere Fadenspulen erinnern. Das Kunstwerk wurde von dem Künstlerduo bockemuehl & scheuren angefertigt und trägt den Namen „SUPERGAU – Auslegungsüberschreitender Störfall mit Höhen und Tiefen“.

Die Aufforderung des Festes ist deutlich: „Betreten ausdrücklich erwünscht“. Die Welten der Kunstszene und der Baugenossenschaft wirken als Synergie und locken mit diesem neuartigen Konzept mehr als 1000 neugierige Gäste. Für drei Tage stoppt die Arbeit auf der Baustelle und macht Platz für die Kunst. Ein Tag Aufbau, ein Tag Festival und ein Tag Abbau. Der Faktor Zeit ist für alle Beteiligten präsent. Das Baugelände, auf dem 50 Mietwohnungen entstehen sollen, gibt ein Versprechen von Zukunft – ein Thema, mit dem sich auch die Kunstschaffenden beschäftigten. Wie wird sich unser zukünftiges Wohnen gestalten? Was macht ein Zuhause für mich aus? Wovor habe ich Angst?

Das Programm setzt sich aus vielseitigen Projekten zusammen, die sowohl Film, Kunst, Musik, Performances sowie Literatur beinhalten. Der Aspekt der Nachhaltigkeit wird dabei immer wieder aufgegriffen. Innerhalb der Installation und Perfomance „die Konsequenzenkammer“ von den Konstanzer Studenten Stefan Gritsch und Nik Kenzevic werden zum Beispiel kostenlose Süßigkeiten und Obstspieße verteilt. Die Konsequenzen des Genusses muss der Konsumierende anschließend wortwörtlich selbst tragen, indem er einen Plastikbeutel voll mit Müll in die Hand gedrückt bekommt.

Die Installation „Silva“ der schweizerischen Künstlergruppe Bildspur erinnert an die wichtige Rolle der Natur im Leben der Menschen. Sie gestaltete einen Zauberwald aus dem Zusammenspiel von Design und Technik. Kleine Baumstämme hängen in der Luft und leuchten aus ihren geschnitzten Löchern. Mit dem Satz „Bäume sind offensichtlich vernünftiger als wir, sie streben immer nach dem Licht“ werden die Besucherinnen und Besucher bereits vor dem Installationsraum konfrontiert und zum Nachdenken angeregt. Die Arbeit von Leonie Wohlgemuth lässt die Gäste verwundern und staunen. In ihrem visuellen Experiment mit der Projektion durch und mit Aquarien verwendet sie Videos von Gesprächssituationen, die den Moment zwischen Fragestellung und Antwort zeigen. Als Ziel verfolge die Medienkünstlerin die Veranschaulichung von Zwischenräumen.

Innerhalb des Wettbewerbs „Luftige Schlösser und konkrete Utopien“ können die Besucherinnern und Besucher ihr liebstes Kunstprojekt mit dem „Richtet Mich“-Publikumspreis auszeichnen, indem sie einen Nagel in die Holzscheibe ihres Favoriten schlagen. Diesen Preis erhalten Franziska Weber und Stefanie Walder für ihre audiovisuelle Projektion „Back door“. Die Bespielung der grauen Betonwände eröffnet einen neuen Assoziationsraum und lässt die Zuschauer_innen in eine Sphäre zwischen den kahlen Mauern des Baus und der Natur eintauchen.

Der „Richtfest-Förderpreis“ wird von einer fachkundigen Jury, bestehend aus dem Hochschuldozenten für Kunstwissenschaft Prof. Dr. Jürgen Stöhr, Autorin und Regisseurin Teresa Renn sowie Prof. Peter Fierz und Isolde Britz aus dem Architekturwesen, an David Leutkart vergeben. Der Klangkünstler fasziniert mit außergewöhnlichen Geräuschen in seiner Performance „Betonmeerfahrt“ und beansprucht das menschliche Hörsystem auf höchstem Niveau. Der Beton dient dem Noise-Musiker als Instrument und der Bau selbst wird zum Resonanzkörper.

Das Festival auf der Weinburg in Radolfzell ist so schnell wie es aufgetaucht ist auch schon wieder verschwunden. Die Baustelle wird fortgesetzt und zurück bleibt eine kleine Utopie der Zwischennutzung der Räume, die von der Kunst belebt werden durften. Ihre Geschichten sind noch ungeschrieben und stecken voller neuer Chancen und Möglichkeiten, die von dem zarten Beigeschmack der Zukunftsängste begleitet werden. Das Thematisieren dieser Themen in Verbindung mit der Kunst ist auf der Baustelle in Radolfzell mehr als gelungen und beweist: schweißtreibende Arbeit und außergewöhnliche Ideen werden belohnt. Bitte mehr davon!

Created By
Campuls Hochschulzeitung
Appreciate