Von Cagla Yorulmaz
Seit einigen Jahren wird in den sozialen Netzwerken wie Twitter, Instagram oder Tumblr ein mediales Phänomen immer präsenter: Der Selfie-Protest. Als neue Form des Netzwerkaktivismus' avancierte das Selfie binnen kurzer Zeit zum essentiellen Protestwerkzeug und ist damit weit mehr als ein Medium der Selbstdarstellung. Das fotografische Selbstportrait wird zum Vehikel politischer Statements und reiht sich als neues Genre in das Feld emergenter Bildprotestpraktiken ein. Die wachsende Popularität der Selfie-Proteste ist mitunter dadurch begründet, dass sie verbunden mit einem Hashtag global zirkulieren und oft auch für mediales Aufsehen sorgen. Die zahlreichen Protestkampagnen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Motive, Inhalte und Konstitution, doch allen gemeinsam ist die Tatsache, dass die Selfies als Protestkommunikate fungieren und gegen gesellschaftliche oder politische Zustände virtuell demonstrieren. Doch wie funktioniert ein Selfie als Protestwerkzeug? Welche inszenatorischen Mittel werden eingesetzt? Welche unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten gibt es im Hinblick auf ihren inhaltlichen und ästhetischen Aufbau und welche Schnittstellen bestehen zu Protesten im öffentlichen Raum? Diese Fragen werden entlang einzelner Protestkampagnen genauer untersucht, um einen umfangreichen Einblick in das Genre der Selfie-Proteste zu vermitteln.
But first, let me take a Selfie!
Der Begriff Selfie kam erstmals um 2002 in einem australischen Internetforum auf und wurde 2013 vom Oxford Dictionary als Wort des Jahres gekürt.[1] Das Wort setzt sich zusammen aus der englischen Bezeichnung für Selbst (Self) und verweist damit bereits auf seine Bedeutung. Demnach ist das Selfie als ein fotografisches Selbstportrait zu verstehen, das anders als bei Portraits aus der Malerei, mit einer Fotokamera oder einer Webcam aufgenommen wird. Zentrales Merkmal der Selfies ist die digitale Komponente, die durch das Teilen der Bilder auf sozialen Netzwerken zum Ausdruck kommt.[2] Zudem brachte das Oxford Dictionary auf der Grundlage aller Merkmale folgende Definition des Selfies hervor:
„A photograph that one has taken of oneself, typically one taken with a smartphne or webcam and shared via social media."[3]
Meist werden die Selfies bei der Veröffentlichung mit einem Hashtag verbunden, der den Beitrag thematisch kontextualisiert und markiert. Auf diese Weise werden sie als Kommunikationsmittel eingesetzt und können in kurzer Zeit von einer hohen Anzahl von Rezipient*innen angesehen, weitergeteilt, geliked oder kommentiert werden. Diese Rezeption ist wichtig für eine erfolgreiche Wirksamkeit des Selfies.[4] Das wohl prominenteste Selfie ist das der Moderatorin Ellen Degeneres, welches 2014 auf der Oscarverleihung 2014 aufgenommen wurde. Es wurde über Twitter mehr als 3 Millionen Mal geteilt und setzte damit einen allgemeinen globalen Retweet Rekord.
Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, wie das Teilen eines Selfies auf sozialen Netzwerken den räumlichen und sozialen Rahmen sprengen kann, in dem es zirkuliert. Entscheidend ist auch der Moment, in dem das Bild entstanden ist. Selfies referieren auf einen bestimmten Umstand und fungieren daher als Statusmeldung:
„Selfies haben im Allgemeinen weniger einen repräsentativen Charakter als klassische Selbstporträts, sie betonen stärker den situativen Kontext, in dem sie aufgenommen wurden (z.B. im Urlaub, auf einer Veranstaltung etc.). Die stärker kontextualisierte Verwendung erklärt sich vor dem Hintergrund des Einsatzes der Bilder in den kommunikativen Strukturen der Social Media."[5]
Dieser Bezugsrahmen der Selfies konstituiert sich durch die wechselseitige Beziehung zwischen der abgebildeten Person und dem Ort, wo das Bild aufgenommen wurde. Durch das Selfie drückt die Person ihr Verhältnis in Bezug zu einer bestimmten Situation aus. Beim Herstellungsprozess ist die Person, die das Selfie aufnimmt, Darsteller, Regisseur und Fotograf in einem, weshalb den Selfies im Gegensatz zur Portraitmalerei oder Fotografie ein stärkerer Aspekt der Selbstdarstellung inhärent ist.[6] Diese Selbstdarstellungsposen können politisiert werden, wie das Phänomen des Selfie-Protestes zeigt. Die Protestinhalte werden durch das Selbstbild transportiert und folgen dem Ziel nicht nur die eigene Betroffenheit zu einer Situation zu vermitteln, sondern auch andere mit der eigenen Affizierung zu mobilisieren.[7]
Es steht zur Diskussion ob beispielweise Selbstportraits aus dem Spiegel heraus oder Selbstportraits ohne Körper als Selfies bezeichnet werden können, da sie eigentlich nicht der ursprünglichen technischen und ästhetischen Logik von Selfies folgen. Im Hinblick auf ihre Nutzung als Protestwerkzeug wurde der definitorische Rahmen des Selfies jedoch zunehmend ausgedehnt, wie die folgenden Beispielkampagnen zeigen werden. Diese werden im weiteren Verlauf auf unterschiedliche Aspekte hin analysiert und geben Aufschluss über die vielschichtigen Inszenierungsweisen von Selfie-Protesten. Dabei liegt der Fokus auf Kampagnen, die sich nicht nur inhaltlich verschiedenen Themen widmen, sondern auch in ihrer Ästhetik, der Kommunikationsform und ihrem Affektpotenzial differieren. Dennoch sind die Selfie-Proteste trotz ihrer Unterschiede wirkungsvolle politische Protestbilder und machen dieses Genre umso facettenreicher und spannender.
Das Selfie als Protestwerkzeug
Selfie-Proteste sind virtuelle Demonstrationen die vorwiegend in digitalen Räumen stattfinden. Dabei verlagern sich die Protestaktionen von der Straße in die privaten Räumlichkeiten und von dort in das Internet. Durch das Posten der Selfies auf sozialen Netzwerken entsteht eine globale Online-Community, die ortsunabhängig im virtuellen Raum zusammenkommt. Die sozialen Netzwerke als Orte dieser Protestpraktik sind enorm wichtig, da sich im Gegensatz zu öffentlichen Räumen besonders Unterschiede im Hinblick auf die Gestaltung oder Organisation der Proteste zeigen. Die Aufnahme des Bildes geschieht in kurzer Zeit und kann mit wenig Aufwand geteilt und in Umlauf gebracht werden. Anders als beispielsweise bei der Bürgerrechtsbewegung in den USA, ist bei Selfie-Protesten keine monatelange Planung und Vorbereitung der Kampagnen notwendig.
Innerhalb der Bildprotestpraktiken wurde das Genre des Selfie-Protestes erstmals im Jahr 2013 sprachlich vom Blogger Ben Valentine etabliert. In seinem Artikel mit dem Titel „The Civic Beat Reader: A Survey of the Protest Selfie“ unternimmt er eine erste Bestandsaufnahme sowie einen Definitionsversuch des jungen Genres.[8] Dabei sollte vor allem zwischen den Bezeichnungen Protest-Selfie und Selfie-Protest unterschieden werden. Erstes beschreibt die Protestaktion in ihrer Gesamtheit. Das Protest-Selfie hingegen ist ein einzelnes Element der Aktion. Ein Selfie-Protest besteht also aus mehreren individuellen Protest-Selfies.[9]
Die Erscheinungsform der Protest-Selfies folgt dabei einem bestimmten Schema (siehe links Abbildung 2): Sie sind als Selbstportrait aufgenommen, in denen eine oder mehrere Personen im Zentrum stehen. Typischerweise halten die Demonstrierenden dabei ein Schild mit einer handschriftlich verfassten Protestbotschaft in die Kamera.[10] Dabei bedienen sich die Selfie-Proteste durch das Hochhalten eines Schildes der Praktik gängiger Straßenproteste. Ebenso sind auch in Protesten im öffentlichen Raum immer häufiger Hashtags auf den Schildern als Protestbotschaft zu sehen. Die digitalen und öffentlichen Räume werden im Zuge solcher Protestaktionen durchlässig, sodass Slogans, Zeichen und Inszenierungen hin und her wandern.[11]
Innerhalb der Protestkampagnen fungieren die Hashtags als Label und vernetzen die einzelnen Protest-Selfies miteinander. Gleichzeitig bringen die Hashtags die Botschaft des Protestes gezielt auf den Punkt. Sie sind entweder appellativ und formulieren eine klare Aufforderung oder expressiv und drücken somit einen Affektzustand und/ oder die persönliche Betroffenheit aus. Laut der Bildwissenschaftlerin Kerstin Schankweiler werden die Selfies durch die ästhetische Inszenierung der eigenen Betroffenheit zu Agenten beziehungsweise Vermittler des Protestes oder Protestbotschaft:
„Das Genre des Selfies verschiebt sich […] im Kontext von Protesten zu einer bezeugenden Geste des eigenen Erregtseins. Anders ausgedrückt: Die Affizierung des zum Bild gewordenen Körpers wird zur Botschaft und soll sich übertragen.“[12]
In den meisten Fällen haben die Selfie-Proteste eine eigene Webseite oder es wird eine gemeinsame Plattform genutzt, auf der die Bilder gesammelt, geteilt und als einheitliche Protestkampagne sichtbar werden. Laut Schankweiler bilden die einzelnen Protest-Selfies interpiktorale Verbindungen aus.[13] Das Teilen oder Reproduzieren der Bildidee gilt als Ausdruck eines politischen Statements. Demnach lässt sich das Genre des Selfie-Protestes an der Schnittstelle zwischen Protestkulturen, Mem und Selfies verorten.[14] Vor der begrifflichen Prägung des Genres kam das junge Phänomen des Selfie-Protestes erstmals im Zuge der bankenkritischen Occupy-Bewegung 2011 zum Ausdruck.
Wie die Kampagne #WeAreThe99% sind die meisten Selfie-Protest-Kampagnen als sogenannte Graßwurzelbewegung angesetzt. Als basisdemokratische Bewegung bieten sie allen Interessenten eine Partizipationsmöglichkeit. Oft beginnen die Kampagnen durch Aufrufe im Internet.[15]
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit
Damit ein Selfie-Protest erfolgreich ist muss dieser viral gehen, geteilt und von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Demnach folgen die meisten Selfie-Proteste einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Diese Bezeichnung wurde bereits 1998 von dem deutschen Architekten und Softwareentwickler Georg Franck (siehe unteres Bild Abbildung 3) geprägt. Damit drückt er aus, dass in Zeiten der Neuen Medien und stärkeren Vernetzung der Menschen ein unerschöpflicher Informationsfluss entsteht. Das habe zur Folge, dass sich die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen begrenze. Beinahe täglich entstehen und zirkulieren neue Trends, die uns beeinflussen. Daher wird die Aufmerksamkeit der Menschen zum begehrten Kapital, das darüber entscheidet, wie erfolgreich etwas oder jemand ist.[16]
In Zeiten des großen Influencertums aber vor allem im Hinblick auf die Wirksamkeit von Selfie-Protesten ist Francks Konzept sehr interessant, denn ohne die Aufmerksamkeit und ohne die Wahrnehmung sind diese nicht erfolgreich. Laut Schankweiler stehe die Frage der Aufmerksamkeit dadurch in direktem Bezug zur politischen Wirksamkeit.[18] Große Kampagnen wie #WeAreThe99% haben durch die große Reichweite eine globale Wirkmacht, die genutzt werden kann, um nachhaltigen Einfluss auf die Legislative auszuüben.
Selfie-Proteste im Fokus: Analysen einiger Kampagnen
Vom Protest-Selfie zum Protestmeme
Eine große prominente Aufmerksamkeit erfuhr auch die Protestkampagne #BringBackOurGirls, die 2014 viral ging.
Am Beispiel des bekannten Protest-Selfies von Michelle Obama wird auch deutlich, wie sich diese Form des Bildprotestes stark an Memes orientiert. Memes sind Bildideen, meist ikonische Bilder mit hohem Wiedererkennungswert, die immer wieder aufgegriffen, verarbeitet und in den sozialen Netzwerken verbreitet werden. Diese Nachahmung einer Bildidee geschieht meist in Form von Parodien und Übertreibungen.[19] Auch das Selfie von Michelle Obama wurde zur Bildidee vieler Memes und diente als Vorlage für eine neue Bilderserie. Wie die Beispiele unten zeigen wurde die ursprüngliche Bildidee neu kontextualisiert. Die Obama Memes beinhalten neben einer humoristischen Pointe auch subversive und kritische Botschaften. Einige richteten sich beispielsweise gegen Barack Obamas Regierung und attestierten dem Selfie eine politische Doppelmoral. Während sich Michelle Obama für die Freilassung der gewaltsam entführten Schüler*innen positioniert und portraitiert, zeige sich in der Politik ihres Mannes eine ebenso brutale Vorgehensweise gegen Zivilisten. Gemeint sind damit die zahlreichen Drohnenangriffe des US-amerikanischen Militärs in Pakistan und anderen Ländern des mittleren Ostens während Obamas Amtszeit.[20]
Gleichzeitig zirkulierten auch Protest-Selfies, die unter anderem den Gesichtsausdruck der First Lady parodierten. Die Memes folgen einer Praktik, die von Schankweiler als Reenactment oder auch Mimification bezeichnet wird.[21] Die Kopie und Nachstellung bekannter Protestikonen oder Komponenten anderer Bilder bringe neue Bildersequenzen hervor. Im Falle vom Obama-Selfie wird dadurch ein neuer Selfie-Protest gegen ein bestehendes Protest-Selfie sichtbar.
Solidarisch gegen Stigmatisierung und Rassismus
Ferner gibt es zudem Selfie-Proteste, die keine große Reichweite erzeugen und sich vorrangig mit einem bestimmten Personenkreis solidarisieren. Als Beispiel hierfür gilt die Kampagne #IamALiberianNotAVirus, die sich gegen die Stigmatisierung von Personen aus Liberia richtete. Im Zuge der Ebola Epidemie 2014, dessen Ausbruch auf Viren aus den tropischen Regenwäldern Zentralafrikas zurückgeführt wurde, sahen sich viele Menschen aus Liberia und anderen westafrikanischen Ländern großen Stigmatisierungen ausgesetzt. Besonders in den USA wurden Menschen aus Liberia unter Generalverdacht gestellt, mit dem Virus infiziert zu sein. So auch die Tochter der liberianischen Fotografin Shoana Solomon, die die Kampagne initiiert hat. Ihre Tochter besuchte eine Schule in den USA und wurde dort von ihren Mitschüler*innen ausgegrenzt und beleidigt. Aus ihrer Verzweiflung heraus teilte Solomon ein Youtubevideo mit dem Hashtag #IamALiberianNotAVirus, in dem sie die Vorurteile gegenüber westafrikanischen Menschen kritisierte. Das Video verbreitete sich schnell und löste einen Selfie-Protest aus, mit dem sich zahlreiche Menschen Solomons Botschaft und Hashtag angeschlossen haben.[22] Dabei wurden in der Kampagne nicht nur Themen wie Identität und Zugehörigkeit verhandelt, sondern vor allem eine antirassistische Haltung eingenommen.
Ähnliche stigmatisierende Äußerungen gingen auch zu Beginn der Corona Pandemie 2020 um die Welt. Viele Menschen asiatischer Herkunft wurden zu Opfern von Vorurteilen, da man ihnen vorwarf die Schuld für den Ausbruch der Pandemie zu tragen. Dagegen wurde ebenfalls mit einem Selfie-Protest demonstriert. Ebenso wurde hierfür ein antirassistisches Netzwerk gegründet, welches betroffenen Menschen eine Plattform bietet sich über ihre rassistischen Erfahrungen auszutauschen und Unterstützung zu bekommen.[23]
Auch die Protest-Selfies unter dem Hashtag #NotInMyName bekundeten ihre Verbundenheit mit einer bestimmten Personengruppe. In diesem Selfie-Protest distanzierten sich Muslime von der Terrormiliz Islamischer Staat. Initiiert wurde die Kampagne 2014 von der britischen Stiftung Active Change und sollte verdeutlichen, dass der Islam nicht mit der ISIS gleichzusetzen ist. Denn im Zuge der Anschläge durch Dschihadisten und der Bekämpfung der Terrormiliz Islamischer Staat wurden Muslime häufig zur Zielscheibe von fremdenfeindlicher Hetze und Stigmatisierungen.[24]
Dieser Selfie-Protest basiert auf einem Zwei-Lager-Konzept, bei dem auf einer Seite die Protestteilnehmenden stehen und auf der anderen jene Menschen oder Ideologien gegen die protestiert wird. Die Protestteilnehmenden konstituieren sich als Gemeinschaft und grenzen sich von einer bestimmten Ideologie oder Meinung ab. Gleichzeitig positionieren sie sich als geschlossene Gruppe für eine gemeinsame Sache.
Dies wurde auch in der Kampagne #JeSuisCharlie deutlich. Der Slogan ging unmittelbar nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo 2015 viral und wurde sinnbildlich für die globale Haltung gegen Terror und für Meinungsfreiheit. Dabei wurde der Hashtag nicht nur online über Tweets oder Selfies genutzt, sondern auch auf den Plakaten der Straßenproteste sichtbar, wodurch die Überschneidung von öffentlichen und digitalen Protesträumen zum Ausdruck kam.[25]
Bei dieser Kampagne reichte ein Hashtag aus, um den Protestinhalt der Selfies verständlich rüberzubringen. Es gibt auch Kampagnen, in denen persönliche Statements die Hashtags ergänzen, da sie sonst nicht verständlich wären. Durch diese werden die Selfies zudem personalisiert. Die eigene Betroffenheit, soll die Betrachter*innen zusätzlich emotional beeinflussen.
So beispielsweise beim Protesthashtag #NotAMartyr. Diese Kampagne entstand ebenfalls im Jahr 2014 im Libanon als Reaktion auf den Tod des 16-Jährigen Mohammed al-Chaar durch einen Bombenanschlag in Beirut. Die libanesische Öffentlichkeit bezeichnet die im Zuge solcher Bombenanschläge verstorbenen Zivilisten oft als Märtyrer, statt sie als unschuldige Opfer eines Gewaltaktes zu betrauern. Mit dem Slogan wurde daher gegen die Glorifizierung und Verharmlosung solcher Bombenanschläge protestiert. [26] Er wurde mit persönlichen Kommentaren wie zum Beispiel „I want to stop looking for a new place to call home“ ergänzt, was dem Protest eine emotionale Note und Dringlichkeit verleiht, da die Protestierenden ihre persönlichen Ängste und Sorgen zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz zu groß angelegten Kampagnen wie #BringBackOurGirls bezeugt dieser Selfie-Protest durch die individuellen Statements eine stärkere Betroffenheit.
Das Teilen von Protest Selfies mit oder ohne persönlichen Kommentaren kombiniert mit der Sichtbarkeit der eigenen Person unterscheidet das Protestgenre von anderen digitalen Protestformen. Ein charakteristisches Merkmal der Selfie-Proteste sei das Changieren zwischen persönlicher Meinung und gemeinsamem Auftritt als Gemeinschaft, so Kerstin Schankweiler:
„Teilen geschieht hier teilweise als Teilhabe an persönlichem Erzählen, aber vor allem als Darstellung der eigenen Meinung. So wird die persönliche Meinung zu einer Ressource, die man nach Bedarf zum Einsatz bringt. Die Protestteilnehmer reihen sich strukturell wie ästhetisch in eine Kommunikationsform ein, der Fokus aber verschiebt sich durch die medial konstruierte Vereinzelung weg vom gemeinsamen Protestinhalt hin zur (fotografischen) Präsenz des Individuums. Dennoch kippt diese durch den gemeinsamen Hashtag gleichsam wieder zurück in die Sphäre der Kommunikation als Gemeinschaft und man erreicht dabei eine Verschmelzung von persönlicher Sphäre und öffentlichem Raum”.[27]
Mit Bezug auf #NotAMartyr zeigt sich also einerseits eine gemeinsame solidarische Haltung gegenüber den Opfern von Bombenanschlägen aber auch eine sehr persönliche Betroffenheit, die durch die Statements sehr individuell zu Ausdruck gebracht wird. Somit sind die gemeinschaftliche und persönliche Sphären des Protestes miteinander verwoben.
Formen und Ästhetik der Protest-Selfies
Allgemein können Protest-Selfies in personalisierter oder standardisierter Form geteilt werden. Das personalisierte Selfies ist durch persönliche Statements der Personen gekennzeichnet. Die Protestbotschaft bekommt nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine individuelle Geschichte.
Ein deutsches Beispiel für diese personalisierten Selfie-Proteste ist der Slogan #AuchIchBinDeutschland.
Bei standardisierten Selfies werden bestimmte Bildrepertoires, wie beispielsweise das Hochhalten eines Schildes mit Hashtag, oder eine einheitliche Inszenierungsweise reproduziert und markieren so ebenfalls die Dringlichkeit der Protestbotschaft, welche sich aber auch durch die Variation der abgebildeten Person nicht ändert. Die Individualität oder persönliche Betroffenheit tritt dadurch in den Hintergrund und es entsteht eine stärkere Einheitlichkeit im Hinblick auf die Ästhetik.[28] Ähnlich wie bei Memes wird bei standardisierten Selfies eine einheitliche Bildidee kopiert und in Umlauf gebracht.
Auch der ästhetische Rahmen der Selfies ist ein wichtiges Merkmal dieser Protestform. Die Selfies erwecken die Assoziation der Spontanität und wirken oft provisorisch. Meist entstehen sie in privaten Räumlichkeiten und oft aus schrägen, ungewöhnlichen Perspektiven oder sie weisen eine unscharfe Qualität auf. Diese imperfekte Ästhetik hat weniger mit mangelnder fotografischer Expertise zu tun. Viel mehr soll sie jenen personalisierenden Charakter sowie den situativen Kontext der Protest-Selfies hervorheben. Verstärkt wird dies zusätzlich durch die handschriftlich verfassten Protestschilder.[29] Sie verweisen auf die Anwesenheit einer Person. Ebenso können auch die Räumlichkeiten oder das Umfeld, weitere semiotische Hinweise über die abgebildete Person geben.
Dazu gehören beispielsweise Bücher oder Bilder im Hintergrund, weitere abgebildete Menschen oder die Möbel im Raum. All diese Elemente können zusätzliche Rückschlüsse auf Vorlieben, politische oder persönliche Einstellungen, den Glauben, Interessen oder den Wohnort der Protesteilnehmer*innen geben, wodurch die Selfies ebenfalls einen personalisierten Charakter erfahren. Zum Beispiel dieses Protest-Selfie (siehe Abbildung 11): Trotz augenscheinlicher Anonymität der Person, können Betrachter*innen aufgrund des abgebildeten libanesischen Passes zumindest die Herkunft des Protestierenden verorten.
Daraus ergibt sich die Frage, ob Protest-Selfies überhaupt gänzlich anonymisiert sein können oder immer ein „Resthinweis“ zur Person abgebildet wird.
Verdeckt aber dennoch sichtbar - Anonyme Protest-Selfies
In der Vergangenheit wiesen einige Selfie-Proteste auch anonymisierte Inszenierungsweisen auf. Damit ist in erster Linie das Unkenntlichmachen der Person auf den Selfies gemeint. Die Anonymisierung erfolgt meist durch das Verdecken der Augenpartie oder des Gesichts (siehe links Abbildung 12). Eine weitere Strategie der Anonymisierung ist das Verschweigen des Namens oder auch der Verzicht auf die Urheberschaft des Selfies. Bei der semiotischen Ausführung der Anonymisierung steht jedoch die Frage im Vordergrund, was mit dem Protest inhaltlich und stilistisch zum Ausdruck gebracht werden soll. Wenn es sich um Kampagnen handelt, die erst dann verständlich werden, wenn ihnen jemand mit einer persönlichen Geschichte ein Gesicht verleiht (z.B. #AuchIchBinDeutschland), dann würde eine Anonymisierung die Protestwirksamkeit konterkarieren.
Aber warum gibt es überhaupt anonymisierte Protest-Selfies? Als Grund für die Anonymisierung nennen einige Protestteilnehmer*innen den Schutz ihrer Privatsphäre. Gleichzeitig ist die Anonymisierung auch notwendig, wenn die Person sich aus einem politisch-repressiven Kontext heraus an einer Kampagne beteiligt. In der Kampagne #NotAMartyr gab es zahlreiche Selfies, die anonymisiert waren, da die Beteiligten eine Verfolgung oder andere Sanktionen seitens des Staates fürchteten und die einzige Möglichkeit sich an dem Protest zu beteiligen darin bestand sich selbst unkenntlich zu machen.[30]
Der Körper als Medium der Affekterzeugung
Einige Selfie-Proteste weichen zudem von der typischen Inszenierungsweise mit handschriftlich verfasstem Schild ab. Oft wird auch der eigene Körper als Trägermedium einer Protestbotschaft eingesetzt. Wie beispielsweise in der sehr eindringlichen Kampagne #SuffocatingPrisoners aus dem Jahr 2016. Zu sehen sind Menschen mit einer Plastiktüte über dem Kopf, die den Anschein einer Erstickung vermitteln (siehe Abbildung 16). Damit wollen die Protestierenden auf die menschenunwürdigen Zustände in den ägyptischen Gefängnissen während der Hitzewelle im selben Jahr aufmerksam machen und stehen hierfür mit ihrem eigenen Körper ein. Trotz hoher Temperaturen gab es dort weder Ventilatoren noch Klimaanlagen.[31]
Solche ikonischen Gesten ersetzen die typische Inszenierungsart der Selfie-Proteste. Die ästhetische Logik in diesen Selfies ist ein Mittel zur Affekterzeugung. Die Betrachter*innen bekommen durch die Protest-Selfies bestimmte Empfindungen, wie beispielsweise das Gefühl eingeengt zu sein oder keine Luft mehr zu bekommen. Durch die Demonstration der eigenen Betroffenheit in den Protest-Selfies entstehe laut Schankweiler eine sogenannte affective community:
„Die Selfie-Proteste belegen vor allem das Affiziertsein der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, denn nur das konstituiert die Zugehörigkeit zu einer Protestgemeinschaft als affective community. Dabei nehmen die Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen teil und ihre Bewegtheit erfährt die unterschiedlichsten emotionalen Ausprägungen.“[32]
Die persönliche Betroffenheit der Protestierenden kommt in den Selfie-Protesten zum Vorschein. Auch wenn diese bei jedem/jeder unterschiedlich sein kann und individuell für sich zu betrachten ist, bildet die Betroffenheit dennoch emotionale Basis dafür, sich als Teil einer Gruppe zu sehen. Im Hinblick auf Selfie-Proteste entwickelt sich dadurch eine sogenannte Affektzeugenschaft, indem die Bilder in Relation zueinanderstehen. Die einzelnen Selfies aber auch Protestteilnehmenden sind miteinander vernetzt, affizieren sich gegenseitig und bringen auf diese Weise neue Bilder hervor.
„Die Affektzeugenschaft gewinnt hier gegenüber anderen Formen von Zeugenschaft massiv an Bedeutung. Es ist die Intensität der Bewegtheit, die Affizierung der Fotografinnen und Fotografen, über die die Bilder Zeugnis ablegen […] Die Affizierung wird die zentrale Mitteilung der Bilder. Diese Feststellung soll keineswegs die einzelnen Inhalte der Kampagnen negieren, die natürlich nicht austauschbar sind, sondern es geht um den Modus, in dem das Genre operiert.“[33]
Besonders durch das Affizierungspotenzial solcher Selfies können unterschiedliche Kampagnen und auch Protestformen miteinander korrelieren. Die Beispielkampagne #SuffocatingPrisoners veranschaulicht einerseits die Verknüpfung zu Körperprotesten. Gleichzeitig wurde für diese Kampagne auch der Hashtag #IWantToBreathe verwendet, welcher einen Bezug zur Black Lives Matter Bewegung herstellt. So können allein durch die gemeinsame Nutzung eines Hashtags zwei inhaltlich unterschiedliche Proteste miteinander verknüpft werden und auf einer Metaebene eine gemeinsame Protestbotschaft zum Ausdruck bringen.
Im Spannungsfeld zwischen politischem Protest und Selbstdarstellung
Proteste entstehen dort, wo die Semiosphäre und das soziale Leben diskutiert und neu verhandelt werden. Demnach bietet das junge Phänomen des Selfie- Protests eine interessante Grundlage, um über die Wirksamkeit digitaler Protestkulturen zu debattieren. Da sich diese zunehmend populärer werdende Protestform ausschließlich in den sozialen Medien abspielt, wird sich nicht nur unsere Wahrnehmung von digitalen und öffentlichen (Protest)Räumen verändern, sondern vor allem die Art und Weise, wie wir uns künftig an Demonstrationen beteiligen.
Durch das grenzenlose World Wide Web haben Protestaktionen im Netz einen geringen organisatorischen Aufwand, wodurch auch Themen sichtbar gemacht werden können, die sonst keine große Aufmerksamkeit erzeugen würden. Dadurch entstehen globale Communities über Ländergrenzen hinweg.
„Wir leben in einer Welt, in der wir uns nicht nur für das einsetzen, was vor unserer Haustür passiert, sondern auch für Schülerinnen, die aus Nigeria entführt wurden. Das Internet ist oft der einzige Kanal, um diese Information weiterzuleiten. Manchmal wird so aus einem Mikroprotest eine Massenbewegung. Niemand lacht über Menschen, die mit Schildern auf der Straße demonstrieren gehen. Wenn sie diese in eine Kamera halten, sollte das zukünftig auch niemand mehr. Denn es kann gut sein, dass es ihnen morgen zahlreiche gleichtun und der Protest mehr Leute umfasst, als eine Straße es je können wird.“[34]
Dennoch wird die Protestkultur im digitalen Zeitalter auch von kritischen Stimmen überschattet. Diese neue Art politischer Beteiligung durch Klicks und Likes wird auch Clicktivsm genannt. Der Selfie Protest wird dabei mitunter pejorativ als Slacktivism bezeichnet. Das Wort setzt sich aus den englischen Begriffen slack für Faulenzer und activism für Aktivismus zusammen. Darunter versteht man eine Form des Aktivismus ohne tiefe geistige Auseinandersetzung mit dem Thema oder dem Protestgegenstand. Auf den Selfie-Protesten lastet der Vorwurf, sie seien eine bequeme und kurzlebige Form des Demonstrierens, die keine nachhaltigen Veränderungen bewirken. Einige Kritiker bezeichnen Selfies zudem als narzisstisch und oberflächlich. Oft seien diese Selfie-Protestkampagnen für viele lediglich eine Gelegenheit sich selbst durch ein Portraitbild zu inszenieren, wodurch die Wahrnehmung der Protestinhalte überschattet werde. Die Protesttierenden beteiligen sich oft nur halbherzig an den Kampagnen, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen.[35] Der amerikanische Journalist und Aktivist Micah White sagte dazu:
„Clicktivsim will never breed social revolution. Clicktivism is to activism as McDonalds is to a slow-cooked meal. It may look like food, but the lifegiving nutrients are long gone“.[36]
Eine Revolution entstehe seiner Meinung nach nur, wenn der Aktionismus in der realen Welt durchgeführt wird. Ähnlicher Meinung ist auch der kanadische Journalist und Autor Malcolm Gladwell. Die sozialen Netzwerke würden keine starken Beziehungen generieren, diese seien aber essentiell für die Wirksamkeit von Protestaktionen. Laut Gladwell gleiche jeder Protest, der über soziale Netzwerke läuft einem Strohfeuer.[37]
Dennoch bieten uns Selfie-Proteste eine niedrigschwellige und kreative Möglichkeit der politischen Protestpartizipation. Zudem können Protestbotschaften in kurzer Zeit global zirkulieren und eine hohe Anzahl an Menschen erreichen und sensibilisieren. Besonders unter den gegenwärtigen, pandemiebedingten Restriktionen, können wir durch Selfie-Proteste wider aller Kontaktbeschränkungen gemeinschaftlich für eine Sache einstehen. Natürlich ist das Selfie in erster Linie ein Medium der Selbstdarstellung, doch das sollte die Wirksamkeit nicht in Frage stellen. Sich über ein Selfie politisch zu äußern ist nur faul, wenn das Engagement darüber hinaus nicht weitergeht. Gleiches gilt auch für Proteste im öffentlichen Raum. Entscheidend ist die Bereitschaft auch abseits von digitalen oder öffentlichen Protestaktionen das eigene Bewusstsein über aktuelle politische Themen und gesellschaftliche Problematiken zu stärken und sich selbst innerhalb bestehender Diskurse kritisch zu positionieren.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars "Migration, Populismus und Protest - semiotische Perspektive einer komplexen Dynamik" im Wintersemester 2020/2021 an der Universität Potsdam.