Behandele Dich so, wie Du deine beste Freundin oder Freund behandeln würdest
Das Konzept der Selbstfürsorge (self-compassion) erscheint auf den ersten Blick vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Es ist auch keine Therapie "gegen" ADHS. Sondern eher ein Umgang mit sich selbst und seiner Umwelt, die zu einer höheren Lebensqualität und Lebenszufriedenheit führt. Man könnte auch schreiben : Wir lernen dadurch, unsere Amygdala (Mandelkern) im Gehirn zu "umschmeicheln", also das körpereigene Stress- und Alarmzentrum zu pflegen und für Entlastung im Kampf mit den Tücken des Alltags zu sorgen. Somit bindet sich dann das Konzept der Selbstforsorge prima in einen multimodalen Therapieansatz für ADHS ein
Nobody ist perfekt - eigene Fehler verzeihen
Ein Grundansatz der Selbstfürsoge ist, dass wir ALLE so unsere Schwächen und Macken haben. Und uns selbst verzeihen sollten, wenn mal wieder etwas schief gelaufen ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nun Fehler gut finden sollte oder stolz darauf sein muss. Aber die Grundannahme ist, dass man sie eben nicht vorsätzlich begeht.
Kein ADHS-Kind steht morgens mit dem Vorsatz auf, seinen Lehrer zu ärgern oder die Hausaufgaben nicht zu machen. Aber die syndromtypischen Schwächen führen dann dazu, dass es immer wieder ähnliche Fettnäpfchen und Probleme bis zu handfesten Krisen gibt. Da ist es dann aus meiner Sicht unethisch und ganz sicher pädagogisch unsinnig ein Kind für sein Fehlverhalten zu bestrafen. Gerade ADHS-Kinder lernen NICHT aus Fehlern. Sie merken sich aber, wie wir Erwachsenen auf ihre Schwächen reagieren. Und diese Reaktionen sind häufig so, dass man sich am liebesten hinterher alles rückgängig machen würde.
Was aber für das eigene Kind gilt, sollte auch für das eigene Verhalten gelten. Wenn wir uns selber für unsere Missgeschicke und Versäumnisse noch runter machen, hilft das NIEMANDEN. Genauso wenig, wie nun ständige Auseinandersetzungen mit Familienangehörigen (Ehepartner/-in, Verwandte) weiter helfen. Leider aber eben häufige Realität und zusätzliche Belastung für viele Familien aus dem ADHS-Spektrum. Gar nicht zu reden von der Ausgrenzung von Kindern, die dann beispielsweise nicht mehr zu Kindergeburtstagen oder zum Spielen eingeladen werden.
Ich schreibe diesen Text gerade in einer Situation, wo die schwersten Fehler meines Lebens deutlich werden. Ich habe lange weggeschaut, anderen geholfen und dabei eigene Baustellen völlig ausser acht gelassen. Unverzeihlich und mit ganz fürchterlichen Folgen für mich und meine Familie. Weil darunter auch Pflichten gehörten, die ich nicht beachtet habe. NIcht wahrgenommen habe. Obwohl ich ja vom Kopf her weiss, das sie da sind. Das Gefühl, dann in Grund und Boden versinken zu wollen. Scham. Wut auf sich selbst. Angst. Die Unfähigkeit, dann überhaupt einen klaren Kopf zu haben oder mal eine Nacht zu schlafen. Kenne ich auch. Nur zu gut. Ich habe mich dabei aber auch völlig selbst aus den Augen verloren. Mein ADHS-Gehirn hat einen sehr speziellen Wahrnehmungs- und Regulationsstil. Das sind ganz tolle Eigenschaften, die ich nicht aufgeben oder missen möchte. Aber es gibt eben auch ganz fürchterliche Probleme, wenn man sich selber aus den Augen verliert - oder überschätzt.
Es hilft aber nicht, sich noch selber runter zu machen (das ist jetzt eher eine Botschaft an mein eigenes Selbst...). Sondern man muss lernen, aus dieser Negativsicht auszusteigen. Häufig weiss das ADHS-Gehirn eigentlich ziemlich genau, wie es tickt. Hinterher kann man die Fehler in eine Verhaltensanalyse glasklar sezieren. Viele meiner Patientinnen und Patienten analysieren sich quasi in unendlichen Grübelschleifen bis zur Selbstverachtung. Das Problem ist dann gerade, dass dies nicht etwa zu Erkenntnissen beiträgt oder gar das Verhalten ändert. Man / Frau lernt dann gar nicht aus Fehlern.
Last but not least : Auch Helfer bzw. Bezugspersonen wie Lehrer, Ärzte oder Therapeuten oder auch Behörden (Jugendamt, Schulbehörden) sind nicht die natürlichen "Feinde" von ADHS-Familien. Leider eskaliert aber auch hier häufig syndromtypisch die Lage.
Und so sammeln sich quasi immer mehr negative Erfahrungen
Themenübersicht : ADHS und Selbstfürsorge
In den Beiträgen zum Thema ADHS und Selbstfürsorge möchte ich die folgenden Aspekte näher aufgreifen.
Kristin Neff - Expertin im Bereich "self-compassion"
Bekannt geworden ist das Konzept der Selbstfürsorge durch Arbeiten bzw. Webseiten und Workshops von Kristin Neff. Vor einigen Jahren wurden Bücher von ihr auch auf deutsch übersetzt (Amazon Link)
Ähnliche Ansätze im Umgang mit Belastungen und chronischen Erkrankungen, aber auch im Schutz von Angehörigen oder auch uns Therapeuten u.a. vor Burnout und sekundärer Traumatisierung finden sich aber inzwischen in verschiedenen Varianten.
Man könnte es als Abwandung von Konzepten der Achtsamkeits-basierten Stressbewältigung (mindfulness) verstehen oder aber als Ansatz der positiven Psychologie im Sinne eines konstruktiven Umgangs mit Problemen und Krankheiten.
Aber eigentlich geht es darüber hinaus. Ich verstehe es so, dass quasi der innere Alarm-Schalter des Gehirns auf "Aus" gestellt werden kann. Die Auswirkungen der inneren und äußeren Dauer-Stress-Belastung auf das ADHS-Gehirn bzw. das Gehirn der Angehörigen und Mitmenschen stellt vielleicht die weit grössere Belastung dar als die eigentliche Kernsymptomatik von ADHS im Sinne von Hyperaktivität, Impulskontrollstörungen und Aufmerksamkeitsproblemen. Anders ausgedrückt : Gerade im Versuch Unterstützung und Gehör zu erhalten, verschlimmbessern viele ADHSler bzw. ihre Angehörigen noch ihre innere Stress-Situation. Sie fühlen sich unverstanden bzw. allein gelassen. Ein emotionaler Zustand, der wiederum aus der eigenen Biographie (eben auch mit der Selbstbetroffenheit der Eltern) nur zu bekannt "gefühlt" wird.
Während gerade Menschen aus dem ADHS-Spektrum eine hohe Empathie für Andere aufbringen, missachten sie nicht selten die eigenen Grenzen der Belastbarkeit. Sie werden entweder zum seelischen Mülleimer oder merken aufgrund der Probleme der Selbst- und Fremdwahrnehmung und auch Probleme beim Abgrenzen gar nicht, wie sie immer weiter und weiter ausbrennen bzw. sich selbst verlieren.
In meiner langjährigen klinischen Arbeit habe ich so bei etlichen Leiterinnen und Leitern von engagierten Selbsthilfegruppen bzw. Eltern von ADHS-Kids gemerkt, wie sie weit über die eigenen Grenzen der Belastbarkeit in einen Angehörigen-Burnout bzw. eine Art Ausgebranntheit von Helfern geraten sind. Dieses Phänomen wird in der englischsprachigen Fachliteratur auch als "caregiver burnout" bezeichnet Im deutschsprachigen Raum spricht man dann auch von Empathie-Erschöpfung. Irgendwann ist auch bei der hilfsbereitesten guten Seele der Akku leer bzw. das Nervenkostüm abgefressen. Und natürlich kenne ich es auch von mir : ADHS-typisch ist die Selbst-Regulation im Alles-oder-Nichts-Modus ohne Zwischenstufen. Das führt dazu, dass die Grenzen der eigenen Belastbarkeit schon gar nicht mehr gesehen und natürlich auch nicht eingehalten werden (können). Oder im anderen Extrem die Selbstaktivierung gar nicht mehr unterbleibt und dringliche Aufgaben und Selbstpflege unterbleiben.
In diesen Stress- und Erschöpfungsphasen verschlimmbessert man dann häufig seine Situation dramatisch. Das "klare Gehirn" fehlt komplett. Häufig berichten Klienten dann, dass sie "neben sich stehen". Quasi ein Entfremdungssyndrom (Derealisations- und Depersonalisation). Besonders, wenn eben die eigenen Grenzen lange überschritten sind. Wenn man quasi ganz bei der anderen Person ist, der man vermeintlich helfen muss. Und gar nicht mehr bei sich selbst.
Hinzu kommt, dass die Lebensbedingungen alles andere als einfach sind. Dauerstress und Baustellen wohin man schaut, prägen die Lebenswirklichkeit der meisten ADHS-Familien. Dabei finden sich ja eben auch häufig (lange ohne davon zu wissen) Menschen aus dem ADHS-Spektrum in einer Art "Not-Partnerschaft". Ungerade Lebensläufe, häufige Jobwechsel bzw. Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen und leider häufig auch Suchtprobleme oder aber komorbide Probleme (zB. emotional-instabile Persönlichkeitsmerkmale, Essstörungen, Ängste) . Einfach geht ganz sicher anders.
Selbstfürsorge als Grundhaltung
Selbstfürsorge bezieht sich auf den pflegsamen (achtsamen) Umgang mit sich, aber eben auch seinem Kind oder zu pflegenden Angehörigen. Und sollte aus meiner Sicht auch den wertschätzenden und achtsamen Umgang mit den Helfern (Therapeuten, Erzieher / Lehrer etc) integrieren. Und letztlich dann in eine positive Wechselwirkung, ja gemeinsame Haltung und damit auch Verständnis führen.
Selbstfürsorge im Verständnis dieses Ansatzes ist ein AKTIVER Prozess. Es ist also bewusst mehr als nur passive Entspannung. Es ist ein Weg, den man erlernen und dann im Alltag immer und immer wieder selber einschlagen kann. Oder eben auch nicht. Der Nutzen wird sich allerdings ähnlich wie bei Entspannungsverfahren nur dann einstellen, wenn man das Prinzip in seinen Alltag integriert (und wir wissen natürlich, wie schwer genau das ist). Es ist ein Teil der Therapie, dass man dann selbst dafür eine Wahrnehmung gewinnt, ob man gerade selbstfürsorglich mit sich selbst umgeht oder aber nach alten Schemata quasi in einem negativen "Autopiloten" gefangen ist und dafür sorgt, dass alte Schemata und Vorurteile sich quasi selbst bestätigen.
Unterstützung für das Projekt ADHSSpektrum
Ich möchte Texte und Inhalte von ADHSSpektrum möglichst kostenfrei für alle Leserinnen und Lesern zur Verfügung stellen. Auch wenn es vielleicht nicht direkt so aussieht, so kostet das aber auch. Nicht nur Kraft, sondern auch Geld. (Das merke ich leider immer wieder schmerzhaft). Wenn Ihr das Projekt unterstützen könnt und wollt, so freue ich mich. Das kann über das Teilen im Internet bzw. Selbsthilfegruppen sein. Markiert bei Facebook Freunde und macht Sie auf diese Seiten aufmerkam. Natürlich auch über das Anklicken der Affilate links (wie oben im Text) und Käufe bei Amazon (egal aus welcher Produktkategorie)
Natürlich hilft aber auch eine Unterstützung in finanzieller Art bei Patre. Über eine Art "Spenden-Abo" kann man dabei selber die Höhe und Dauer der Unterstützung festlegen. Siehe HIER
Für die "Unterstützer" werde ich in Kürze u.a. Vorträge von mir online stellen bzw. dann natürlich auch für individuelle Fragen zur Verfügung stehen. Das wird dann quasi "hinter" der Paywall sein. Sorry.