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Die Reichspogromnacht 1938 in Verden Ein virtueller Rundgang zu den Tatorten der Reichspogromnacht am 9. November 1938 in Verden. Autor: Hermann Deuter

Am 9. November 2020 jährt sich zum 82. Male der Tag, an dem in vielen Städten und Orten des Deutschen Reichs die Synagogen niederbrannten und jüdische Ladengeschäfte angegriffen und deren Schaufenster zertrümmert wurden.

Für den 9. November 2020 hatte das Dokumentationszentrum Verden im 20. Jahrhundert, doz20 e.V., im Rahmen einer »Jüdischen Woche« einen Rundgang mit fünf Stationen zu den Tatorten der Reichspogromnacht 1938 in Verden geplant. Der Rundgang musste aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Das Dokumentationszentrum hat das zum Anlass genommen, diesen Rundgang in Wort und Route als virtuellen Rundgang online zu stellen.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mit großem Respekt daran zu erinnern, dass es Jürgen Weidemann war, der die Aufarbeitung des Schicksals und des Leidensweges der jüdischen Mitbürger für die Stadt Verden ins Rollen gebracht hat, indem er sie auf eigene Faust erst einmal ausfindig gemacht und damit auch die von der Stadt Verden organisierten Treffen mit ihnen in den Jahren 1989, 1993 und 1997 überhaupt erst möglich gemacht hat. Er war auch der erste, der die Ereignisse der Reichspogromnacht in Verden eingehender untersucht und mit einer Veröffentlichung in Erinnerung gerufen hat.

Danke auch an Werner Schröter und Joachim Woock für weitere grundlegende Untersuchungen zur Aufarbeitung des Schicksals der jüdischen Mitbürger Verdens und die Initiative für die Verdener Stolpersteine. Ohne die drei Genannten könnten wir heute nicht in dieser Weise über die Verdener Pogromnacht berichten.

Prolog

Bevor wir uns nun auf den Weg machen, noch einige allgemeine Bemerkungen zur Lage der jüdischen Mitbürger Verdens seit Anfang 1933. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Nationalsozialisten lebten in Verden 78 jüdische Mitbürger*innen. Die Jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder waren hier äußerst präsent, nicht zuletzt durch ihr religiöses und kulturelles Zentrum, die Synagoge am Johanniswall, vor allem aber auch durch über ein Dutzend jüdische Geschäfte im Stadtzentrum. Hinzu kamen sieben jüdische Viehhändler.

Nur wenige Monate nach der Machtübernahme, am 1. April 1933, zettelte das NS-Regime reichsweit und auch in Verden Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte an. Dieser Boykott und die folgenden Drangsalierungen und Bedrohungen der jüdischen Geschäftsinhaber und auch der Kunden hatte zum Ziel, die berufliche Existenz jüdischer Ladenbesitzer nachhaltig zu untergraben. Antijüdische Hetze und gesetzliche Maßnahmen wie z.B. das Reichsbürgergesetz von 1935, mit denen Juden zu Menschen zweiter Klasse degradiert wurden, setzten die Diskriminierung und Kriminalisierung der jüdischen Mitbürger fort. Ziel der NS-Diktatur war dabei die sogenannte »Arisierung«, d.h. die vollständige Verdrängung von Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben und der komplette Raub ihres Besitzes und Vermögens.

Auch in Verden mussten so schon vor 1938 zahlreiche jüdische Selbstständige und Gewerbetreibende aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben. Den jüdischen Viehhändlern wurde durch Entzug ihrer Konzessionen Berufsverbot erteilt. 1938 waren in Verden von den einstmals 22 jüdischen Selbständigen und Gewerbetreibenden und über einem Dutzend Ladengeschäften nur noch vier Ladengeschäfte übriggeblieben.

Das jüdische Mahnmal

Zur Erinnerung an das Schicksal, den Leidensweg und die Ermordung der jüdischen Mitbürger Verdens in den Vernichtungslagern

Ausgangspunkt des Rundgangs: Das Jüdische Mahnmal am Rathaus Verden. (Quelle: Verdener Familienforscher e.V.)

Wir treffen uns am Mahnmal für die in den Konzentrationslagern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ermordeten Verdener Juden. Die Stele wurde 1993 aus Anlass des zweiten Treffens mit einigen ehemaligen jüdischen Mitbürgern Verdens, ihren Verwandten und Nachkommen eingeweiht.

Häuser und Ladengeschäfte auf der »Großen Straße« in jüdischem Besitz, um 1930. (Quelle: Volker Wolters, Blender)

Vier Häuser auf der westlichen Seite der Großen Straße in jüdischem Besitz und/oder mit jüdischem Geschäft um 1930: Ehemaliges Wohnhaus des Bankiers Lehmann (Nr. 76, 2. Haus von rechts), links daneben die Geschäfte von Leopold Rothschild, Schuhwaren (Nr. 78), Paul Jonas, Schuhwaren (Nr. 80) und Gebrüder Seckel, Textilien (Nr. 82).

Die Nazi-Propaganda behauptete, es handle sich bei der sogenannten »Reichskristallnacht« um einen »spontanen Ausbruch des Volkszorns« gegen die Juden. Das war gelogen! Die Bevölkerung schlief, als das NS-Regime seine planmäßige, aber auch feige und heimtückische Nacht- und Nebelaktion zur Vollendung der »Arisierung« durchführte.

Wer waren hier die Täter?

Restlos geklärt ist das nicht. Starke Indizien sprechen jedoch dafür, dass ein Trupp der Verdener SA die Scheiben der Geschäfte zertrümmerte und den Synagogenbrand legte. Vier Angehörige des Verdener SA-Reitersturms sorgten für die Festnahmen jüdischer Männer unter dem absurden Vorwand des Synagogenbrandes.

Tatort Nummer 1: Große Straße Nr. 29 und 31

Die Häuser in der Großen Straße Nr. 29 und Nr. 31 im Jahre 2020. (Quelle: Annika Drichel)

Diese beiden Häuser in der Großen Straße befanden sich seit langem im Eigentum der Brüder Paul und Julius Baumgarten. Im Haus Nr. 29 wohnten Paul und Ehefrau Clara Baumgarten. Sie hatten in diesem Haus lange ein Schuhwarengeschäft betrieben, mussten das Ladengeschäft aber vermutlich 1936 aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben. Im Hof dieses Grundstücks, von der Stifthofstraße erreichbar, betrieben Julius und Luise Baumgarten einen Handel mit Fellen und Altmetall. Sie wohnten aber nicht hier, sondern am Holzmarkt in einer Mietwohnung.

Im Haus Nr. 31 führte Agathe Baumgarten mit ihrem Ehemann Arnold, dem jüngsten der drei Baumgarten-Brüder, ein Ladengeschäft für Trikotagen, Wollwaren, Schürzen und Wäsche. Ihr Spezialgebiet war die Herstellung und Reinigung von Federbetten. Ihre Wohnung befand sich nebenan in Haus Nr. 29. Am 30. September 1938 erhielten Julius und Agathe Baumgarten für ihre Geschäfte im Hinterhof Nr. 29 und Nr. 31 wie die anderen drei noch verbliebenen jüdischen Geschäftsinhaber Verdens eine Verfügung der Polizei, nach der sie Ladeneingang und Schaufenster in 20 cm großen Buchstaben mit ihren Namen zu beschriften hatten – eindeutig eine Vorbereitung auf die Reichspogromnacht!

Um Mitternacht des 9. November 1938 begann der Terror der SA

Die Scheiben von Schaufenster und Eingangstür des Ladengeschäftes Nr. 31 wurden eingeworfen. Einige Stunden später wurden alle drei Brüder Baumgarten festgenommen. Sie wurden wie auch alle anderen Verhafteten zur Verdener Gestapo in der Herrlichkeit verbracht, anschließend ins Verdener Gerichtsgefängnis eingeliefert und dort ohne Anklage fast bis Ende November festgehalten. Ihre Geschäfte wurden geschlossen.

Mit der »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« und der »Verordnung über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit« vom 12. November 1938, also drei Tage nach der Pogromnacht, schuf sich das NS-Regime die gesetzliche »Legitimation« für die faktisch bereits erfolgte Zwangsschließung der Geschäfte und die beginnende Ausplünderung der jüdischen Privat- und Geschäftsvermögen. Als »Sühneleistung« für die in der Reichspogromnacht entstandenen Schäden (!) hatten alle Juden mit einem Vermögen über 5.000 RM zunächst 20%, später 25% ihres Vermögens abzuführen. Alle jüdischen Mitbürger verloren außerdem ihre Ansprüche auf Renten, Pensionen und Versicherungen.

Am 5. Dezember 1938 bestimmte NS-Landrat Karl Weber, dass das Ladengeschäft von Agathe Baumgarten geschlossen bleiben und nicht in »arische Hände« übergehen sollte. Es sollte also auch nicht von einem «Arier« weitergeführt werden. Warenlager und das gesamte Geschäftsinventar mussten die Baumgartens nun zu Schleuderpreisen verkaufen, ebenso die beiden Immobilien. Das Haus Nr. 31 kaufte der Kfz.-Meister Heinrich Bolte. Die neuen Eigentümer des Hauses Nr. 29 sind nicht bekannt. Ab Februar 1939 wurden alle Juden zudem gezwungen, persönliche Wertgegenstände, z.B. Schmuck oder Uhren, bei eigens eingerichteten staatlichen «Ankaufstellen« zu vorgegebenen Preisen einzutauschen.

Während Julius und Luise Baumgarten in Verden blieben, zogen die Ehepaare Arnold und Agathe und Paul und Clara Baumgarten im Frühjahr bzw. im Sommer 1939 nach Bremen. Vermutlich erhofften sie in der Anonymität der Großstadt mehr Schutz. Alle drei Ehepaare Baumgarten hatten bereits eine Emigration geplant. Doch die Ausreise scheiterte aus nicht bekannten Gründen. So entkamen sie der Todesmaschinerie der Nationalsozialisten nicht. Mitte November 1941 wurden die drei Ehepaare von Bremen aus ins Vernichtungslager Minsk deportiert und dort im Juli 1942 ermordet.

Die Söhne von Arnold und Agathe Baumgarten, Werner und Gerhard (Uri und Josef Bustan) überlebten. Sie hatten sich schon früh der zionistischen Bewegung angeschlossen und waren nach Palästina emigriert, wo sie seither im Kibbuz lebten und arbeiteten. Uri Bustan alias Werner Baumgarten war mit seiner Ehefrau bei allen drei Treffen der Stadt Verden mit ihren ehemaligen jüdischen Mitbürgern dabei und besuchte später u.a. die Familien Eckermann in Otersen und Krippendorff in Eitze auch privat. Vor Gericht erstritt er eine Entschädigung für den vom NS-Regime geraubten Familienbesitz.

Tatort Nummer 2: Große Straße Nr. 43

Das Wohn- und Geschäftshaus der Familie Löwenstein vor dem Ersten Weltkrieg am Rathausplatz, Große Straße 43. (Quelle: Volker Wolters, Blender)

Das Haus in der Große Straße Nr. 43, heute Geschäftsstelle der Verdener Post, war das Wohn- und Geschäftshaus der jüdischen Familie Löwenstein. Eigentümer des Anwesens und Inhaber des Handelsgeschäfts mit Gardinen, Betten, Wäsche und maßgefertigten Hemden war Julius Löwenstein, Vater von sechs Kindern. Nach dessen Tod 1934 ging der gesamte Grundbesitz auf seine Frau Amalie Löwenstein über. Das Geschäft übernahmen ab 1937 die Söhne Max und Hans Löwenstein. Beide lebten ebenfalls in diesem Haus, Max mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern.

In der Reichspogromnacht demolierten SA-Schergen auch das Ladengeschäft der Löwensteins und zertrümmerten die Scheiben der Schaukästen und Schaufenster. Max und Hans Löwenstein wurden festgenommen. Dabei kam es zu einem bemerkenswerten Vorfall, als sich ein SA-Mann zunächst weigerte, die Festnahme vorzunehmen und dazu mit vorgehaltener Pistole gezwungen werden musste. Max und Hans Löwenstein wurden bis zum 27. November eingekerkert. Ihr Geschäft wurde geschlossen und durfte ebenfalls nicht »in arische Hände« übergehen. Sie sahen sich gezwungen, ihr Warenlager und Geschäftsinventar weit unter Wert zu verkaufen und im Frühjahr 1939 hatten sie auch persönliche Wertgegenstände bei der staatlichen Einkaufsstelle einzutauschen.

Spätestens seit der Reichspogromnacht waren alle Löwensteins zur Emigration entschlossen. Noch im November 1938 schloss man einen Vertrag zum Verkauf des Gebäudes Nr. 43 mit dem Verdener Kaufmann Heinrich Cordes (Firma Gebrüder Frerichs). Cordes hatte bereits auf eigene Kosten die Schaufensterscheiben reparieren lassen und wollte auch einen Teil des Warenlagers übernehmen. Doch der Verdener NSDAP-Bürgermeister Lang schritt ein. Er vermutete Kollaboration und untersagte das Geschäft. Der Vertrag wurde annulliert, Heinrich Cordes erhielt Hausverbot.

Beschmierte Fassade und Fenster des Ladengeschäfts der Gebr. Löwenstein (li.) und Kleiderbügel der Verdener Niederlassung der Fa. Seckel. (Quelle: Doz20 e.V.)

Knapp ein Jahr später, im August 1939, konnten die Immobilie und zwei weitere Häuser im Besitz der Löwensteins in der Stifthofstraße für 40.000 RM an den Verdener Tischlermeister Friedrich Günther und an Christian Rodeck verkauft werden. Nach Abzug einer Hypothek von knapp 20.000 RM und einer »Auflage« des Stader Regierungspräsidenten von 17.500 RM, die auf einem Sperrkonto landeten, blieben der Familie ganze 2.500 RM vom Verkaufserlös.

Fünf der sechs Kinder der Löwensteins gelang die Emigration, darunter auch dem jüngeren Geschäftsinhaber Hans Löwenstein, der Anfang Juni 1939 nach Panama auswanderte. Und auch Mutter Amalie gelang noch Anfang Januar 1940, also nach Kriegsausbruch, die Ausreise nach San Salvador zu ihrem ältesten Sohn Gerhard, der ebenfalls emigriert war. Nur einer schaffte es nicht mehr: der ältere Geschäftsmitinhaber Max Löwenstein mit seiner Ehefrau Senta und den beiden 1936 und 1938 geborenen Kleinkindern Manfred und Eva. Alle vier wurden am 17. November 1941 nach Minsk deportiert und dort im Juli 1942 ermordet.

Auch Mitglieder, Verwandte und Nachkommen der Familie Löwenstein besuchten in den Jahren 1989, 1993 und 1997 anlässlich der Treffen mit den ehemaligen jüdischen Mitbürgern unsere Stadt. In den Entschädigungsverfahren nach dem Krieg einigte sich die Erbengemeinschaft der Familie außergerichtlich mit den neuen Besitzern ihrer früheren Immobilien.

Tatort Nummer 3: Große Straße Nr. 78

Ein Posten vor dem Schuhgeschäft von Leopold Rothschild wirbt für eine Sonderausgabe des nationalsozialistischen »Stürmer« vom August 1935. Die Ausgabe enthält einen Propagandabericht über ein Terrorurteil gegen den Juden A. Hirschfeld in Magdeburg wegen »Rassenschande« (Recherche Dr. J. Woock, Quelle der Abb.: PA Jürgen Weidemann).

Im Jahr 1938 befand sich in der Großen Straße 78 das Schuhwarengeschäft von Leopold Rothschild. Der 50jährige Rothschild lebte mit seiner Ehefrau Johanna seit 1914 in Verden. Das Paar hatte zwei Kinder, der Sohn starb jedoch schon als Jugendlicher. Das Ladengeschäft war gemietet, die Familie wohnte in einer Mietwohnung in der Großen Straße 118, die damals der Bremer Konsumgenossenschaft gehörte (heute Fa. Hantelmann).

Beschmierte Schaufenster des Schuhgeschäfts Rothschild. (Quelle: doz20 e.V.) Johanna Rothschild Schuhspanner mit Firmensignet (Quelle: Andrea Lutter)

In der Nacht des 9. November erfuhr Leopold Rothschild zunächst gar nicht, dass auch sein Geschäft beschädigt und die Schaufensterscheiben von den SA-Schergen zertrümmert worden waren. Als er in den frühen Morgenstunden des 10. November von vier Angehörigen des SA-Reitersturms Verden festgenommen wurde, schlief die Familie noch und wusste auch nichts vom Brand der Synagoge, der als Vorwand für die Festnahme diente. Auch Rothschild wurde ins Gerichtsgefängnis eingeliefert und dort willkürlich fast drei Wochen festgehalten. Erst am 27. November kam er wieder frei.

Sein Schuhgeschäft war inzwischen geschlossen und das Schaufenster zunächst notdürftig mit Brettern vernagelt worden. Die Stadtverwaltung hatte aber bereits drei neue Scheiben auf Kosten Rothschilds in Auftrag gegeben. Die Rechnung lautete über stattliche 478,24 RM. Als einzigem der vier jüdischen Ladengeschäfte gestattete NS-Landrat Karl Weber die Weiterführung des Schuhgeschäfts – natürlich erst nach der »Arisierung«. Neue Geschäftsinhaberin wurde eine Frau Stubbe aus Weissenfels. Das Ehepaar Rothschild aber verlor nicht nur sein Schuhgeschäft, sondern wurde auch noch aus seiner Wohnung gedrängt. Mitte 1939 zog man in ein sogenanntes »Judenhaus« am Holzmarkt und später in die Stifthofstraße.

Von den in Verden verbliebenen Geschäftsinhabern lebte 1942 nur noch Leopold Rothschild. Er war der Deportation ins Vernichtungslager Minsk im November 1941 entgangen, weil er mit seiner Ehefrau Johanna (»Arierin«) in sogenannter »Mischehe« lebte, die ihm und seiner Familie zunächst Schutz bot. Zudem hatte er einflussreiche Fürsprecher, u.a. den Fabrikanten Anton Höing, seinem zeitweiligen Arbeitgeber nach 1938.

Anfang 1945 geriet Leopold Rothschild doch noch in die Todesmaschinerie des NS-Regimes, als er dem Transportzug zur Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt im heutigen Tschechien zugeteilt wurde. Der Zug kam jedoch nur bis Hannover und stoppte dort. Rothschild marschierte zurück nach Verden – und überlebte! 1947 wanderte das Ehepaar Rothschild in die USA aus. Die Tochter Ilse Levy war schon vor dem Krieg dorthin emigriert. 1949 kehrte das Ehepaar zurück nach Verden. Den Ansprüchen Rothschilds auf angemessene Entschädigung für materiellen Verlust, erlittenes Unrecht und gesundheitliche Folgen wurde nur zum Teil entsprochen. Leopold Rothschild verstarb 1956, seine Ehefrau Johanna 1969 in Verden. Seine Tochter Ilse Levy war ab 1989 Teilnehmerin der Treffen mit den ehemaligen jüdischen Mitbürgern

Tatort Nummer 4: Ostertorstraße Nr. 2

Im Gebäude hinten links neben »Haases Gasthof« befand sich 1938 das Hut- und Putzgeschäft von Henriette Goldschmidt (Quelle: Volker Wolters, Blender)

Im Haus Ostertorstraße Nr. 2, zwischen dem früheren Café Engelhardt und dem damaligen »Haases Gasthof« befand sich ein weiterer Tatort der Reichspogromnacht. In diesem Haus führte Henriette Goldschmidt, damals 61 Jahre alt, ein Hut- und Putzgeschäft. Das Ladenlokal war angemietet, sie selbst wohnte in der Großen Straße Nr. 56, ebenfalls zur Miete.

Henriette Goldschmidt stammte aus Achim und lebte seit 1906 in Verden. Sie gehörte zu den ersten weiblichen Gewerbetreibenden in Verden. Aus ihrer 1933 geschiedenen Ehe mit dem jüdischen Religionslehrer und später auch als Kaufmann tätigen Joseph Goldschmidt gingen der Sohn Walter und Tochter Renate hervor. Zudem lebte ihre Nichte, die Vollwaise Hanni Baumgarten, später verheiratete Friedmann, in ihrem Haushalt.

In der Reichspogromnacht demolierten die SA-Männer ihr Geschäft als erstes und zertrümmerten dessen Schaufensterscheiben. In den frühen Morgenstunden klingelte der SA-Reitersturm auch im Haus Große Straße Nr. 56, dem Wohnhaus Henriette Goldschmidts und erklärte dem die Haustür öffnenden Hausbesitzer Friedrich Schramm, sie wollten einen jüdischen Mann festnehmen. Offensichtlich konnten sie sich eine Frau als Geschäftsinhaberin nicht vorstellen. Hausbesitzer Schramm erklärte, hier wohne kein jüdischer Mann. Henriette Goldschmidt entging so möglicherweise einer Festnahme.

Auch Henriette Goldschmidt sollte die ohne ihr Wissen von der Stadt in Auftrag gegebene Neuverglasung von zwei Scheiben ihres Geschäfts selbst bezahlen. Sie protestierte hiergegen schriftlich bei der Stadtverwaltung: Sie könne die berechneten 241,60 RM nicht aufbringen, ihre Einkünfte reichten noch nicht einmal zum Leben. Ihr Protest wurde jedoch abgewiesen. Ihr Geschäft blieb auch nach dem 9. November geschlossen und wurde nicht »arisiert«. Warenlager und Geschäftsinventar musste sie unter Wert verkaufen und ihre persönlichen Wertgegenstände hatte sie im Frühjahr 1939 bei der staatlichen Ankaufstelle einzutauschen.

Ende 1938 hatte Henriette Goldschmidt einen Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses zur Emigration nach Palästina gestellt. Ihm wurde sogar stattgegeben. Doch sie schaffte es aus nicht bekannten Gründen nicht, Deutschland zu verlassen. Am 17. November 1941 wurde sie mit 21 weiteren Verdener Juden von Bremen aus ins Vernichtungslager Minsk deportiert und dort im Juli 1942 ermordet. Ihr geschiedener Mann Joseph Goldschmidt erlitt im KZ Sachsenhausen dasselbe Schicksal. Auch Sohn Walter wurde 1942 in Ausschwitz umgebracht. Tochter Renate und Nichte Hanni überlebten. Ihnen gelang die Emigration nach Palästina.

Dem Geschäft von Henriette Baumgarten fast direkt gegenüber lag das Büro der Verdener Gestapo, Herrlichkeit Nr. 4, 1. Stock (Quelle: Volker Wolters, Blender).

Tatort Nummer 5: Synagoge am Johanniswall und Gerichtsgefängnis

Die brennende Verdener Synagoge am Johanniswall in den Morgenstunden des 10. November 1938 (Quelle: Bildarchiv Domherrenhaus)

Die Verdener Synagoge ist der zentrale Tatort der Reichspogromnacht. Ungefähr am Standort des heutigen Bioladens befand sich damals die Verdener Synagoge, ein 1858 errichtetes stattliches Backsteingebäude, das Zentrum jüdischen Glaubens, jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in Verden. Eigentümer war die Jüdische Gemeinde Verden, die das Gebäude 80 Jahre zuvor aus eigenen Mitteln hatte bauen lassen.

Die Verdener Synagoge, ein 1858 errichtetes stattliches Backsteingebäude. (Quelle: Historisches Museum Domherrenhaus, Fotoarchiv – nach einer Lithographie von H.G.Müller, 1860)

Aus Sicht des NS-Regimes mussten diese öffentlichen Symbole des Judentums unbedingt dem Erdboden gleichgemacht werden. Das heimtückische Niederbrennen der Synagogen in ganz Deutschland durch das menschenverachtende NS-Regime ist ein beispielloser Zivilisationsbruch und ein unglaublicher Rückfall in die Barbarei. Die ausführenden Brandstifter in Verden waren vermutlich drei Verdener SA-Männer unter Führung des SA-Sturmführers Friedrich Kruse (Dauelsen). Bewiesen ist, dass die herbeigerufene Verdener Freiwillige Feuerwehr auf Anweisung ihres Hauptmanns Hagemann nicht löschte, sondern das bis dahin noch kleine und beherrschbare Feuer im Gegenteil sogar noch anfachte. Fakt ist auch, dass sich Hagemann vom sicherlich nicht zufällig anwesenden NS-Landrat Karl Weber unter Druck setzen ließ, der äußerte: »Der Tempel bleibt brennen«. So brannte die Synagoge bis auf die Grundmauern nieder.

»Der Tempel bleibt brennen…«

Mit den bereits erwähnten Personen wurden insgesamt 14 jüdische Männer am frühen Morgen der Brandnacht festgenommen, zur Gestapo in der Verdener Herrlichkeit gebracht und von dieser im Gerichtsgefängnis eingekerkert. Das Gerichtsgefängnis, das sich im hinteren Teil dieses Gebäudekomplexes befand, war also ein weiterer Tatort der Reichspogromnacht. Die drei Vorstandsmitglieder der Jüdischen Gemeinde Verdens, Arnold Baumgarten, Max Löwenstein und Leopold Rothschild, gehörten ebenfalls zu den Männern, die dort einsaßen. Sie wurden massiv unter Druck gesetzt und erklärten sich am 12. November 1938 noch im Gefängnis bereit, das 907 qm große Grundstück der Synagoge zu verkaufen. Das Grundstück kaufte Frau Hilde Grantz für 6.349 RM. Ihr Ehemann, der Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Grantz, verauslagte 1022,96 RM für nicht geleistete Löscharbeiten und für den sofortigen Abriss der Brandruine. Den Betrag hatte die Jüdische Gemeinde vom Kaufpreis zu erstatten.

Die NS-Diktatur hatte mit der Reichspogromnacht auch in Verden ihre Ziele erreicht. Die Synagoge existierte nicht mehr, die Jüdische Gemeinde in Verden war faktisch ausgelöscht, die letzten jüdischen Geschäfte Verdens waren geschlossen, Grundstücke und Gebäude wurden »arisiert«. Nur wenige Verdener Juden überlebten den Holocaust.

Im Jahre 2011 erlebte die Synagoge überraschend eine teilweise »Wiedergeburt«. Bei der Herrichtung des Geländes für den Bau des Fachmarktzentrums tauchten mehrere Kellerräume der Synagoge mit der erhalten gebliebenen Treppe zur Mikwe (rituelles Tauchbad) wieder auf. Die Reste der Synagoge und einige Funde wurden in Absprache mit dem niedersächsischen Landesrabbiner vollständig dokumentiert und – wieder überbaut. Erfreulicherweise schuf die Stadtverwaltung auf der rechten Seite des Grundstücks aus Steinen des Fundaments der Synagoge eine kleine Gedenkstätte zur Mahnung und zur Erinnerung an den einstigen Standort der Verdener Synagoge.

Dies ist eine gekürzte Web-Doku zum Rundgang zu den Tatorten der Reichspogromnacht des doz20 e.V., Dokumentationszentrum Verden, anlässlich des 82. Jahrestages.

Copyrights: Hermann Deuter (Content) und Martin Drichel (Web-Doku), 2020. Veröffentlichung von z.B. Textauszügen, Zitaten, Bildern, Videos o.ä. nur nach vorheriger Anfrage beim Autor unter eMail: hermanndeuter@yahoo.de

Vielleicht sind Sie im Besitz von weiteren Informationen über die Reichspogromnacht in Verden? Sprechen Sie mit uns: doz20 e.V., Holzmarkt 13, 27283 Verden, Öffnungszeiten: Mo. und Mi. 16:00 – 18:00 Uhr Telefon: 04231 92 81 553, eMail: doz20-verden@ewe.net
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Martin Drichel
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