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Mit Vierer-Kajak zum Fujiyama Von Sonja Schmidt

„Normale Menschen würden damit sofort umkippen, selbst wenn sie versuchen, sich festzuhalten.“ Weltklasse-Kanute Ronald Rauhe steht lächelnd vor seinem Boot, einem Profi-Gerät: extrem hydro- und aerodynamisch, extrem schmal, extrem unpaddelbar für den Otto Normalverbraucher.

Aber Ronald „Ronny“ Rauhe ist eben kein Otto Normalverbraucher, er ist Olympiasieger und mehrfacher Olympia-Medaillist im Kanurennsport. Wir treffen den gebürtigen Berliner beim Training am Kanu-Club Potsdam direkt am Olympiastützpunkt Brandenburg e.V. Dass der 39-jährige Sportsoldat überhaupt noch für die Olympischen Spiele trainiert, ist pure Schicksalsfügung. Tokio 2021 werden seine sechsten und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch letzten Spiele. In Sydney 2000 holte Hauptfeldwebel Rauhe im K2 über 500 Meter Bronze, 2004 in Athen Gold und 2008 in Peking Silber in derselben Disziplin, 2016 nach Rio sollte dann Schluss sein.

Deutschlands Spitzenpaddler startet im „Einer“ über 200 Meter. In 35,66 Sekunden überquert er die Ziellinie als Vierter. In den folgenden Sekunden macht sich Enttäuschung breit, bis der Bundestrainer am Ufer euphorisch die Hand mit drei erhobenen Fingern schwenkt. Rauhe landet per Fotofinish mit Saúl Craviotto auf Platz drei. Es ist neben dem Gold 2004 sein schönster olympischer Moment. „Es war eigentlich wie nach Drehbuch geschrieben, sehr dramatisch und letztendlich doch mit einem Happy End“, resümiert Rauhe.

Foto links: Der Gewinn der Bronze-Medaille 2016 im K1 gehört zu Rauhes schönsten olympischen Momenten. Foto: picture alliance/dpa

„Ich bin noch Feuer und Flamme für den Sport“

Trotzdem bleibt das medaillengekrönte Karriereende aus, denn die olympische Disziplin „Vierer-Kajak“ wird von 1000 Meter auf 500 Meter verkürzt, Ronald Rauhes Paradedisziplin. „Ich wusste auch, welche drei Jungs in Frage kommen würden, wenn man in den Vierer steigt. Da habe ich gesagt, okay, ich häng noch ein Jahr dran und guck mal, was daraus wird.“

Was daraus wird: quasi auf Anhieb der WM-Titel 2017 und ein Weltrekord, der bis heute hält. Es wäre einfach zu schade gewesen, dieses Potential und die Chancen wegzuschmeißen, erklärt der 39-Jährige. „Das sportliche Feuer ist noch nicht so richtig erloschen, daher war es für mich eine Erlösung, noch mal drei Jahre dranzuhängen.“

Inzwischen sind Ronald Rauhe, Tom Liebscher, Max Lemke und Max Rendschmidt seit drei Jahren ungeschlagen. Da werden wieder Olympia-Erinnerungen wach, diesmal der schlimmen Sorte. 2008 ging Rauhe mit seinem Paddel-Kollegen Tim Wieskötter an den Start, die beiden waren acht Jahre ungeschlagen und Top-Favoriten, doch am Ende gab es „nur“ Silber. „Ja, das ist ein bisschen dieselbe Situation. Wir sind drei Jahre ungeschlagen, drei Jahre in Folge Weltmeister geworden. Wir sind Weltrekordhalter aktuell und dadurch natürlich Top-Favorit auf die Goldmedaille in Tokio. Ich hoffe nicht, dass sich dasselbe Spiel wiederholt.“

Deutschlands Erfolgsvierer in Aktion beim Kanu-ICF-Weltcup Duisburg 2019: von vorne Max Rendschmidt, Ronald Rauhe, Tom Liebscher, Max Lemke. Foto: picture alliance/Sven Simon

Da ist er wieder, der Blick, der deutlich signalisiert, dass „Ronny“ Rauhe absolut alles tun wird, um Gold nach Hause zu paddeln. Der Olympiasieger ist ein Kämpfertyp, wenig überraschend also die Wahl seines Arbeitgebers. Die Bundeswehr sei nach dem Abi die einzige Perspektive gewesen. „Hier in Potsdam geht es um Leistungssport. Wenn du das alles so durchziehen möchtest, brauchst du wirklich einen Unterstützer, der das mitmacht.“ Hauptfeldwebel Rauhe hat sich gern als Sportsoldat gemeldet und tatsächlich noch die lange Grundausbildung gemacht sowie die Lehrgänge. Trotzdem sei er froh, jetzt dank Freistellung den Kopf frei zu haben und die Basis und Infrastruktur, um in Ruhe trainieren zu können.

Ohne Sport wäre es vermutlich im Leben des Weltklasse-Kanuten auch gar nicht gegangen. Rauhes Eltern waren beide Kanuten, sein Vater zudem Sportlehrer. „Ich habe das einfach genossen immer draußen am Wasser, einfach rausfahren zum Baden.“ Diese Liebe zum Kanurennsport und den Olympischen Spielen teilt er mit dem Großteil seiner Familie. Rauhes Frau Fanny Fischer ist Kanu-Olympiasiegerin, sein Schwiegervater vierfacher Kanu-Weltmeister, die Schwiegermutter Schwimm-Olympiasiegerin und die Tante seiner Frau ist Birgit Fischer, Deutschlands erfolgreichste Olympionikin. Gibt es denn auch andere Themen als Sport am Familientisch? „Das ist kurios, wir haben viele Medaillen in der Familie in allen Generationen, aber es ist gerade umgekehrt. Wir reden kaum über Sport zu Hause, weil wir alle wissen, wie wichtig der Ausgleich ist.“

Weltklasse-Kanute Ronald Rauhe nimmt in Tokio zum sechsten Mal an Olympischen Spielen teil. Nur einmal (2012) fuhr der Berliner bisher ohne Medaille nach Hause. Foto: DBwV

„Meine Familie hat auf den Tag X hingefiebert, dann kam Corona“

Neben einem Kämpfertyp ist Ronald Rauhe ein absoluter Familienmensch. Er lächelt breit, wenn er über seine beiden Jungs spricht. Sein Großer spiele Fußball im Verein. Sein kleiner Sohn sei ein richtiger „kleiner Kletteraffe“. Tatsächlich hat die Corona-bedingte Verschiebung der Olympischen Spiele um ein Jahr die Familienplanung der Rauhes ordentlich durcheinandergewirbelt, erläutert der 39-Jährige. „Dass es doch anders gekommen ist, war für uns ein ziemlich harter Schlag, weil wir familiär viel geplant hatten. Wir wollten eine längere Auszeit nehmen, drei oder vier Monate nach Australien reisen und Neuseeland. Leider wird mein Sohn jetzt eingeschult, das heißt, wir können nicht mehr so einfach weg.“

Bleibt noch die Frage nach der Zukunft, was folgt nach Tokio 2021? „Ich habe viele Ideen und auch viele Möglichkeiten, die mir offeriert werden, aber im Moment tue ich mich damit noch schwer.“ Die Bundeswehr sei eine Alternative, doch da müsse er sich noch sachkundig machen, wohin der Weg gehen kann, erklärt Rauhe. Gerade mit Familie und Verantwortung sei das eine schwierige Entscheidung, die er im Moment gar nicht fällen könne. Der Fokus liegt auf Tokio, einem Event, dem der Kanute mit gemischten Gefühlen entgegenfiebert – und das liegt keinesfalls am Favoriten-Druck.

Eigentlich wollte Rauhe nach 2020 seine Karriere beenden, das zusätzliche Jahr aufgrund der Verschiebung der Spiele stellte den 39-Jährigen und seine Familie vor schwierige Herausforderungen. Foto: DBwV

Der Finaltag im Vierer ist genau der Tag, an dem Rauhes Sohn eingeschult wird. Das macht Deutschlands Spitzenpaddler spürbar zu schaffen. „Ja, es ist so ein bisschen das traurigste an der ganzen Geschichte. Dass wir einen wichtigen Schritt in unser beider Leben haben, den wir nicht zusammen teilen können.“ Der Sechsjährige habe schon volles Verständnis für seinen Papa und den Sport, trotzdem hätten sie sich schon das eine oder andere Mal mit Tränen in den Armen gelegen. „Wir werden alles tun und Wege finden, dass wir trotzdem beieinander sein können. Handy, Liveübertragung, wir werden zueinander stehen.“

Jeder der vier Spitzenpaddler bringt eine andere Qualität mit ins Boot. Foto: picture alliance / SvenSimon