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Einsamer Schotter MIt dem Gravelbike das Vallemaggia erkunden

Soweit der Plan. Bei der Karten-Recherche sprang das Valle di Peccia in unser Velo-Auge. So startete ein Abenteuer ins Ungewisse und Unbekannte. Es sollte einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Ein Tourenbericht von steilen Schotterwegen und einem alpinen Tunnel. Von Fabian Reichle

Sommerferien in der Schweiz. Vom Bundesrat empfohlen und mit Dank angenommen. Drei Wochen das eigene Land entdecken, das man vermeintlich gut kennt. Zeit, die blinden Flecken auf der Landkarte aufzusuchen und ins Lokale einzutauchen. In unserem Fall stand das Tessin ganz oben auf der Liste. So zogen meine Freundin Nina und ich los.

Das Tessin steht ganz oben auf der Liste.

Den mediterran angehauchten Süden jenseits der Alpen kannte ich lediglich von Locarno und Lugano. Zwei bildhübsche Städte, lange waren sie Sinnbild für meine Wahrnehmung des Kantons: Idyllische Seen, schicke Altstädte und viel Dolce Vita. Dass das Tessin vor Abwechslung nur so strotzt, war mir bis vor kurzem schlichtweg nicht bekannt. Bis ich das Velofahren für mich entdeckte.

Mountainbiking ist jedoch nicht mehr mein Ding, ich habe gänzlich aufs Rennvelo umgesattelt

Von der Werbung inspiriert: Mountainbike Trails in wilder Natur, weitschweifende Blicke und immer wieder gemütliche Grotti. Das ist also auch das Tessin. Mountainbiking ist jedoch nicht mehr mein Ding, ich habe gänzlich aufs Rennvelo umgesattelt. Ein Freund von mir schwärmte von dem schier unendlich langen Aufstieg durchs Maggiatal zum Lago del Naret, seine Fotos unterstrichen seine Euphorie. Es war klar: Ich muss dort hin. Allerdings mit einer alternativen Idee.

Meine Freundin und ich waren nämlich trotzdem nicht mit dem reinrassigen Rennvelo unterwegs, sondern hatten unsere Gravelbikes im Gepäck. Unser erklärtes Ziel war also nicht per se Asphalt, sondern Schotter. Kieswege, wenn man so will. Keine Mountainbike Trails, aber etwas unbefestigter Untergrund hat durchaus seinen Reiz.

Keine Mountainbike Trails.
In einem Tag. Hin und retour.

Startpunkt Talboden

Der Reihe nach: In Coglio haben wir uns im Garni Maggia einquartiert. Eine wunderbar einfache Unterkunft in einem historischen Gebäude – super Frühstück mit regionalen Produkten inklusive. Für das Abendessen war das Grotto Lafranchi keine 100 Meter entfernt. So waren wir zumindest kulinarisch und atmosphärisch in bester Tessiner Gesellschaft.

Coglio im Maggiatal.

Das Problem und gleichzeitig das Schöne an der Routenplanung mit Gravelbikes ist, dass nur spärlich Informationen auffindbar sind.

Quasi alles ist Neuland.

Daher fängt jede Tour für mich mit der Schweizerkarte an. Alles, was schwarz ausgestrichen und somit nicht asphaltiert ist, kommt tendenziell in Frage. Und weil ich mich magisch vom erwähnten Lago del Naret angezogen fühlte, begannen wir die Suche im Norden des Maggiatals. Und tatsächlich, wir wurden fündig.

Die Cristallina-Seeebene sollte es werden. Zumindest soweit es die Strassen zulassen. Beim Kartenstudieren fiel uns bei Ghéiba eine markante Serpentinenstrasse auf. Offensichtlich lang, offensichtlich steil. Und dann war da noch dieses ominöse, fadengerade Teilstück. Die Tiefenrecherche konnte beginnen.

Auf Google Street View kam der erste Dämpfer: Am Beginn der Schotterstrasse beim Marmorsteinbruch prangert ein grosses Fahrverbotsschild mit Barriere. Glücklicherweise gilt das nicht für Fahrräder. Wer trotzdem mit dem Auto hochfahren will kriegt im Restaurant Albergo Monaci in San Carlo eine Genehmigung – Allradantrieb vorausgesetzt.

Bleibt also nur noch das Geheimnis um das schnurgerade Stück nach den ersten Serpentinen zu lüften. Mein erster Gedanke: Ein Tunnel. Weitere Informationen finde ich nicht. Also Licht und Stirnlampe einpacken, es könnte dunkel werden. Wir wären dann mal parat.

Sanftes Einrollen

Los geht es am frühen Morgen der Hauptstrasse entlang gen Norden. Die Beine werden bis Cavergno warm, die Idylle lässt die Kilometer schwinden. Wir biegen rechts ab ins Val Lavizarra und folgen in der immer einsamer werdenden Umgebung dem weiteren Strassenverlauf. Immer wieder erhaschen wir einen Blick auf die wilde Maggia, bis wir in Peccia ankommen. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen respektive die Rennradfahrer von uns. Während erstere die nächsten Kurven in Richtung Lago del Naret, ziehen wir nach links ins Valle di Peccia.

Und plötzlich sind wir allein auf weiter Flur. Es wird absolut ruhig, der Verkehr verstimmt.

Was für eine herrliche Atmosphäre. Nach wenigen Minuten gemütlichen Steigens erscheint San Carlo, ein hübsches, kleines Dörfchen, wo wir auch besagtes Restaurant Monaci finden. Nach einer Espresso-Stärkung und der Versicherung, mit dem Velo die Barriere passieren zu dürfen, radeln wir weiter. Es warten schliesslich noch einige zähe Höhenmeter auf uns.

Mit dem Velo darf man die Barriere passieren.

Kieselsteine und Marmorblöcke

Die sanfte Idylle weicht alsbald einer abgeschiedenen Wildheit. Als wir den Eingang des Steinbruchs passieren, überkommt mich ein surreales Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Die aufgereihten und geschliffenen Steinblöcke haben etwas von sowjetischen Skulpturenparks. Doch Tagträumen liegt nicht drin, jetzt gilt es, die Beine vollends zu aktivieren.

Die ersten Serpentinen sind böse. Es geht steil bergauf und der Untergrund verlangt einiges an Konzentration. Doch der Aufwand lohnt sich. Die schnell gewonnenen Höhenmeter eröffnen einen Weitblick auf das Tal, der seinesgleichen sucht. Dazu sind wir absolut allein unterwegs. Herrlich.

Absolut allein unterwegs.

Die Neugier überkommt mich, als wir uns dem ominösen geraden Strich auf der Landkarte nähern. Tatsächlich, es ist ein Tunnel. Keine ausgebaute Gotthardröhre, sondern ein in den Stein gehauenes, schwarzes Loch.

WIR WÄREN JEDOCH NICHT IN DER SCHWEIZ, WENN ES AM EINGANG KEINEN LICHTSCHALTER HÄTTE.

Amüsiert und abenteuerlustig treten wir in die Pedale, beleuchtet von warmem Neonlicht. Die kühle Luft im Tunnel tut gut, denn die Mittagssonne drückt schon ordentlich.

Es werde Licht.

Walsersiedlungen und Hochebenen

Weiter geht es über Schotter, zu dem sich mittlerweile auch grössere Steinbrocken mischen. Wir kommen auf einer Hochebene an, auf der wunderschöne, alte Walserhäuser stehen. Sogar eine kleine Kapelle wurde hier gebaut. Die Vegetation wird langsam alpin, es geht noch stets aufwärts.

Kapelle bei Sassello.

Die Landschaft wird offener und rauer, die Weitsicht indes immer spektakulärer. Abermals fahren wir dem Wasser entlang: Dem Ri della Froda. Obschon das Gelände unwegsamer wird und auch immer wieder mit intensiven Steigungen aufwartet, packt uns die Neugierde. Wir wollen wissen, bis wohin uns die Strasse führt.

Die Sackgasse endet auf der Piatto della Froda bei einer kleinen Alp. Die dortigen Ziegen inspizieren unsere Velos. Wir haben es geschafft. Ganze 1900 Höhenmeter – quasi am Stück – haben wir zurückgelegt.

Einen solch langen Aufstieg muss man sogar in der Schweiz suchen. Absolut grandios.
Die Ziegen inspizieren unsere Velos

Wie man hochkommt, so kommt man wieder runter. Velo kurz wenden, Sattel runterschrauben und los geht die rasante Abfahrt. Wobei rasant übertrieben ist. Der alpine Weg verlangt uns einiges ab und so geht es dann doch nicht ganz unbeschwert zurück ins Tal. Trotzdem, das Grinsen zementiert sich in unsere Gesichter. Die technische Abfahrt, immer wieder diese Ausblicke und der Szeneriewechsel lassen die müden Beine vergessen. Spätestens nach dem Steinbruch kommt die Kür nach der Pflicht: Gemütliches Ausrollen auf aalglattem Asphalt.

Nach dem Steinbruch kommt die Kür nach der Pflicht. Asphalt.

Die Fahrt zurück nach Coglio scheint unendlich lange. Es hat etwas Spezielles, den gleichen Weg zurückzufahren, den man vorher hochgetrampelt ist. Das alles sind wir nach oben geklettert? Verrückt.

Veloliebe geht durch den Magen

Irgendwann knurrt der Magen. Man hat uns gesagt, wir sollen das Grotto Lafranchi in Cevio besuchen. Dem kommen wir nach und wir sind baff. Ein rustikaleres Grotto können wir uns nicht vorstellen. Komplett im Freien, umgeben von Felsen und Bäumen füllen wir unseren Energiespeicher wieder auf.

Der Abend naht und für uns heisst es, den Tag abzuschliessen. Die letzten Kilometer zurück nach Coglio sind schnell abgespult. Wir geniessen den Abend im Garten unserer Unterkunft und lassen die Route Revue passieren.

Wir haben ein echtes Abenteuer gefunden. Eine Herausforderung und ein absolutes Highlight gleichermassen. Zwar wäre ein Mountainbike allenfalls angenehmer gewesen, aber der Reiz des Ausreizens ist mit dem Gravelbike halt schon vorhanden. Das haben wir definitiv getan.

Aber egal, mit welchem Gefährt man unterwegs ist: Das Valle die Peccia und die anschliessende wunderschöne Einsamkeit in die Höhe der Cristallina-Ebene ist ein bleibendes Erlebnis. Wir kommen wieder, schliesslich haben wir bereits jede Menge weitere gravelbiketaugliche Strassen im Tessin gefunden.

Gravel sei Dank.

Credits:

Text und Foto Fabian Reichle