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Radweg Deutsche Einheit

Wir begehen in diesem Jahr den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Wir Deutschen können froh sein, dass sich das Fenster der Geschichte vor 30 Jahren so weit geöffnet hat. Viele stellen sich heute die Frage „Wo sind wir eins, wo sind noch Brüche“, oder teilen persönliche Perspektiven und Sichtweisen auf die Wiedervereinigung mit ihren Freunden, Bekannten, Kolleginnen und Kollegen. Antworten auf diese Fragen hat auch die Fotografin Mina Esfandiari gesucht, die sich im vergangenen Jahr aufgemacht hat, den vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur initiierten Radweg Deutsche Einheit von Bonn nach Berlin – von West nach Ost – zu befahren. Ihre Eindrücke und Begegnungen am Radweg hat die Fotografin in einer Ausstellung dokumentiert. Leider können wir nun aufgrund der Corona-Beschränkungen die Vernissage und die Wanderausstellung nicht wie geplant durchführen. Dafür möchten wir Ihnen mit diesem digitalen Format einen Einblick in die Ausstellung geben und Lust machen auf Mehr: Fotos, Geschichten und natürlich RAD FAHREN.

Der Radweg Deutsche Einheit ist ein Symbol für die Wiedervereinigung und das Zusammenwachsen der deutsch-deutschen Infrastruktur. Er macht an historischen Orten die gemeinsame Erinnerungskultur unseres Landes hautnah erlebbar. Der Radweg Deutsche Einheit verläuft überwiegend auf dem bereits bestehenden Fernradroutennetz und durchquert sieben Bundesländer. Auf der Website www.radweg-deutsche-einheit.de können einzelne Streckenabschnitte geplant werden. Für die Navigation on-und offline kann die App zum Radweg genutzt werden. Auf dem Radweg Deutsche Einheit gibt es Radstätten u.a. mit Internetzugang, Lademöglichkeiten und digitalen Informationen zu Route und Umgebung.

Kuratorin Thamar Ette:

"Während uns bei touristischen Reiseberichten oft die abziehbildartige Klischeehaftigkeit ins Gesicht springt, zeigt die Ausstellung Fotografien einer Reise, die einen zugleich neuen und intimen Blick auf Deutschland erlauben. Mina Esfandiaris intensive Aufnahmen spiegeln das Selbstverständnis nicht nur einer Generation wider. Ihre Begegnungen mit den Menschen sind so facettenreich wie die Landschaften, die sie mit ihrem Fahrrad durchfuhr. Eine Expedition auf den Spuren deutsch-deutscher Geschichte, eine Durchquerung des sozialen, politischen und privaten Raums auf dem Radweg Deutsche Einheit."

TAG 1 | Bonn |

Nach einer etwa siebenstündigen Zugfahrt mit zwei Umstiegen bin ich am Vortag von meinem Wohnort Berlin nach Bonn gereist. Mein Gastgeber Wladimir, 39, ist sehr aktives Mitglied des Online-Netzwerks Couchsurfing, bei dem der kulturelle Austausch im Mittelpunkt steht. Er stammt ursprünglich aus Stuttgart und erlebte dort den Mauerfall. Vor zehn Jahren kam er als Waldorflehrer nach Bonn und studiert hier Philosophie. „Ich glaube, viele Menschen in den neuen Bundesländern fühlen sich übersehen und denken: ,Ihr nehmt uns nicht wahr, also hauen wir jetzt auf den Putz, damit ihr herschaut.‘ Es geht so viel über das Schlüsselwort Wahrnehmung.“

TAG 2 | BONN » KOBLENZ |

Auf zum Startpunkt des Radwegs – dem Bonner Dienstsitz des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Nach der Feuerprobe meiner ersten, 70 Kilometer langen Etappe werde ich in Koblenz überaus herzlich von meiner Gastgeberin Melanie und ihrem Freund Robert empfangen, die mir ein köstliches mehrgängiges Essen zubereiten. Alles schmeckt einfach doppelt so gut, wenn man den ganzen Tag an der frischen Luft in Bewegung war. Meine Gastgeberin Melanie, 35, kommt gebürtig aus Koblenz und lebte auch zur Zeit der Wende dort. Sie arbeitet in der Touristik der Stadt Koblenz. „Die damalige Überlegung, ein Land in zwei zu teilen, erscheint mir in der heutigen Welt, in der wir eher in Kategorien wie ,Europa und die Welt‘ denken und Landesgrenzen kaum mehr wirklich wahrnehmen, viel zu kleinteilig.“

TAG 3 | KOBLENZ » NASSAU |

Überall am Wegesrand sehe ich flanierende, badende oder auf der Lahn schippernde Menschen, die dem Sonntag alle Ehre machen. Ich raste im Kurort Bad Ems, koste dort von der Römerquelle – und staune über die Architektur: Selbst der Discounter ist in einem prächtigem Gebäude untergebracht. In Nassau treffe ich auf Gastgeberin Julia, selbst begeisterte Radreisende, die zuletzt von ihrem Heimatort in den Iran geradelt ist. Julias Mutter Ute, 58, kommt aus der Region Bad Ems und lebte auch zur Zeit des Mauerfalls dort. Durch eine katholische Jugendbegegnung lernte sie damals Gleichaltrige in Ost-Berlin und Stralsund kennen. Daraus entstanden grenzüberschreitende Freundschaften, die bis heute anhalten. Welch einen Unterschied es doch macht, einen persönlichen Bezug zu haben!

TAG 7 | GIESSEN » MARBURG |

Dauercamper Alex, 71, bewohnt samt Hühnern und Kanarienvögeln eine kleine Gartenlaube auf dem Campingplatz Gießen-Kleinlinden. Er kommt ursprünglich aus Lübeck und erlebte den Mauerfall am Fernseher in seiner Modeschmuck-Firma in Frankfurt am Main. „Der Mauerfall war ein Weltwunder. Wir haben ja Angst gehabt, dass doch geschossen wird. Aber Gott sei Dank gab es keine Gewalt.“

TAG 8 | MARBURG » SCHWALMSTADT |

Nach der Erkundung der Marburger Oberstadt geht es bei wolkenverhangenem Himmel weiter in nordöstliche Richtung. Meine Kondition hat heute eine Durststrecke. Zur Aufheiterung fange ich an, mich mit Selbstgesprächen zu motivieren und zu singen. Fast zeitgleich klart der Himmel auf und bei Sonnenschein geht mir die zweite Hälfte der Etappe viel leichter von den Beinen. Im Altstadt-Gasthaus Specht treffe ich Erwin, 60, den selbsternannten „verrücktesten Einwohner von Schwalmstadt“. Er kommt aus der Region und ist trotz mehrerer jugendlicher Ausbrüche nach Indien und Nepal immer wieder in die Heimat zurückgekehrt.

TAG 9 | SCHWALMSTADT » BAD HERSFELD |

Meine anfänglichen Balance-Schwierigkeiten aufgrund des Gepäcks haben sich mittlerweile in Luft aufgelöst und meine Durchschnittsgeschwindigkeit hat sich bei 18 Stundenkilometern eingependelt. In der Geraden merke ich das Gepäck kaum noch und bergab ist es ein willkommener Beschleuniger. Bergauf macht es mich jedoch zur Schnecke.

TAG 10 | BAD HERSFELD | POINT ALPHA |

Rund 30 Kilometer südöstlich von Bad Hersfeld liegt die Gedenkstätte „Point Alpha“ - bis 1989 einer der wichtigsten Beobachtungsstützpunkte der US-Streitkräfte in Europa. Point Alpha galt im Kalten Krieg als einer der heißesten Punkte. Die heutige Gedenkstätte präsentiert am authentischen Ort die Konfrontation der beiden Machtblöcke, die ehemaligen Grenzanlagen mit ihren Sicherungselementen und gibt einen Einblick in das Leben der Menschen an und mit der Grenze.

"Mein Name ist Kai Struthoff. Ich bin seit 12 Jahren Redaktionsleiter der Bad Hersfelder Zeitung und habe bereits in meiner Studentenzeit in den 1980er Jahren große Radreisen unternommen: Zwischen 1981 und 1992 bin ich fast jedes Jahr mit dem Fahrrad für mehrere Monate in den Sommersemesterferien unterwegs gewesen. Unter anderem bin ich dreimal die amerikanische Westküste entlang gefahren (je 2000 km), einmal quer durch die USA von Boston nach Los Angeles (9000 km), rund um Florida (2000 km), ich war aber auch in Gibraltar (5000 km), in Neapel (2000 km) und mehrfach in Frankreich, Belgien, Holland etc. unterwegs. Ich hatte damals ein Zelt dabei, habe aber auch oft bei Gastfamilien gewohnt und konnte auf diese Art und Weise auch lange Reisen als Student ganz gut finanzieren. Kurz nach der Wende habe ich als gebürtiger West-Berliner aus dem amerikanischen Sektor beim Berliner Tagesspiegel und den Potsdamer Neuesten Nachrichten volontiert. Danach war ich von 1993 bis 1998 in Frankfurt (Oder) als Redakteur bei der Märkische Oderzeitung beschäftigt. Ich habe in diesen spannenden Jahren viele Höhen, aber auch Tiefen der Deutschen Einheit miterlebt."

Was bedeutet die Deutsche Einheit für Sie persönlich?

"Die Deutsche Einheit war für mich zunächst eine Überraschung, aber auch das größte Glück, was ich bisher erlebt hatte. Sie hat meine Biografie völlig verändert und mir ganz neue Wege und wichtige Erfahrungen eröffnet."

Ist die Einheit für Sie vollendet?

"Vollendet ist ein solcher Einheitsprozess vermutlich nie ganz, sondern immer eine Entwicklung hin zu etwas noch Besserem. Natürlich trennen objektiv noch finanzielle und wirtschaftliche Unterschiede unser Land. Aber ich glaube, dass es genauso auch Unterschiede zwischen Berlinern und Schwaben oder Bremern und Bayern gibt - die aber ja eigentlich eher charmant, denn trennend sind. Gemeinsam haben die Ost- und Westdeutschen, dass wir die großen Herausforderungen der Deutschen Vereinigung doch eigentlich ganz gut gemeistert haben auf dem Weg, wirklich "ein Volk" zu werden."

TAG 13 | GUXHAGEN » KASSEL |

Der Tag startet mit einem von der Route abweichenden Ausflug nach Asbach zum Grenzmuseum Schifflersgrund an die hessisch-thüringische Grenze. Wie schon bei Point Alpha packt mich die dem Ort anhaftende Geschichte. Es ist eine wichtige Erfahrung für mein Projekt, die mir dabei hilft, neben den persönlichen Alltagserinnerungen auch faktisch tiefer in das Thema einzutauchen.

TAG 14 | KASSEL |

Wohin nur mit den Radtaschen, wenn man die Stadt erkunden will? Oft sind Bahnhöfe eine gute Anlaufstelle. So schließe ich mein Gepäck am Fernbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe an und kann so leichten Fußes den Bergpark Wilhelmshöhe erklimmen, der Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist. Auf dem Heimweg entdecke ich einige Ampeln mit Ost-Ampelmännchen. Etwa 60 dieser Verkehrslichter wurden zum Gedenken an die Wiedervereinigung in Kassel installiert.

TAG 19 | SEESEN » GOSLAR |

Der Harz, das größte Gebirge Norddeutschlands, zeigt mir immer deutlicher sein schottriges, bergiges Gesicht und das erste Mal wünschte ich, ich wäre mit Mountainbike-Reifen ausgestattet. An den Wegschildern fällt mir das Symbol für den Harzrundweg auf: Eine sportliche Hexe, die ihren Besen aufs Rad geschnallt hat. Ich fände so einen fliegenden Besen jetzt ganz praktisch.

TAG 20 | Goslar » Bad Harzburg |

Frank, 60, hat die Hälfte seines Lebens mit und die andere Hälfte ohne die innerdeutsche Grenze in seiner Heimatstadt Bad Harzburg erlebt. Er arbeitete zur Zeit des Mauerfalls bei einer Bank. „Wir zahlten Begrüßungsgeld in Summen aus, die man niemals für möglich gehalten hätte. Es gab keine Blaupause, alles war improvisiert. Die Entwicklung war rasant, niemand wusste aber, ob die Grenze dauerhaft fällt.“

TAG 21 | Bad Harzburg » Blankenburg |

Obwohl es von der eigentlichen Strecke abweicht, lassen Frank und ich es uns nicht entgehen, ein Stück am Grünen Band entlang zu fahren, welches den ehemaligen Grenzverlauf von Ost nach West markiert. Heute ist es die Grenze von Niedersachsen zu Sachsen-Anhalt. Tatsächlich ist das Erlebnis unspektakulär – auf den ersten Blick weist nichts auf die Geschichtsträchtigkeit hin. Und so wandle ich unbedarft zwischen Ost und West, ohne dass es einen Unterschied zu machen scheint. Die Grenze ist verschwommen, nicht mehr relevant. An der Grenze Eckertal-Stapelburg finde ich dann eine Wiedervereinigungs-Statue und das obligatorische Schild: „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 11. November 1989 um 16 Uhr geteilt.“

TAG 22 | Blankenburg » Quedlinburg |

Im Friedenspark in Thale treffe ich Jeanette, 46, gelernte Metzgerin aus Leipzig, die heute als Busfahrerin arbeitet und in Blankenburg wohnt. Ihre Mutter war SED-Mitglied und die Familie profitierte von den damit verbundenen Vorzügen. Doch Jeanette war eine Rebellin, ging regelmäßig zu den Montagsdemonstrationen: „Schon mit 14 habe ich gedacht: ‚Wie ist es möglich, dass Honecker 99 Prozent der Wählerstimmen haben kann?‘“ Der Mauerfall war deshalb ein einschneidendes Erlebnis für sie. „Ich glaube nicht, dass Deutschland eins ist, die Teilung sitzt zu tief in den Köpfen drin. Diese Denkweise pflanzt sich leider von Generation zu Generation fort.“

TAG 28 | Wittenberg » Beelitz |

Da heute meine längste Strecke überhaupt ansteht (90 Kilometer), rausche ich durch die Orte und raste wenig. Dadurch komme ich in einen seltenen Fluss. Die Radwegqualität ist optimal und mir kommen auch wieder mehr Radreisende entgegen, was sicherlich einen direkten Zusammenhang hat. Bei meinem Besuch der Beelitz-Heilstätten lerne ich, dass dort der entmachtete und an Lungenkrebs leidende DDR-Staatschef Erich Honecker 1990–91 mit seiner Frau Margot Zuflucht fand, bevor die beiden nach Moskau ausgeflogen wurden. Auf dem Baumkronenpfad lassen sich die Ruinen der Beelitz-Heilstätten bzw. die mit Bäumen bewachsene Ruine des 1945 ausgebrannten Gebäudes B IV („Das Alpenhaus“) in luftiger Höhe von bis zu 23 Metern besichtigen. Der zwischen 1898 und 1930 errichtete Krankenhauskomplex diente anfangs als Arbeiter-Lungenheilanstalt. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg fungierte er als Sanatorium und Militärlazarett.

TAG 29 | Beelitz » Berlin |

Der Endspurt: Nach einem Stopp in Potsdam geht es in Berlin auf der Straße des 17. Juni vorbei an der Siegessäule, geradewegs auf das Brandenburger Tor zu, wo ich mit knallenden Sektkorken empfangen werde. Ich bin sprachlos und irgendetwas zwischen euphorisch (über meine Ankunft) und sentimental (weil die Reise vorbei ist). Zur Zeit der Teilung bildete das Brandenburger Tor die unmittelbare Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Der Endpunkt des Radweges liegt übrigens beim etwa zwei Kilometer entfernten Dienstsitz des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Auf dem Heimweg halte ich an der Gedenkstätte Berliner Mauer, an der ich schon unzählige Male unachtsam vorbeigefahren bin. Heute hat sie eine ganz besondere Bedeutung für mich: Im Slalom wandere ich durch die in spätsommerliches Abendlicht getauchte Installation aus Metallstäben. Von Ost nach West, von West nach Ost – als hätte es nie etwas Selbstverständlicheres gegeben.

TAG 30 | Berlin |

Wegen meiner vom Radfahren schmerzenden Handgelenke lasse ich heute das Rad stehen und steige auf öffentliche Verkehrsmittel um. Am symbolischen 30. Tag meines Projektes begebe ich mich auf die dunkle Seite der deutsch-deutschen Geschichte. Die dreistündige Führung durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen hinterlässt mich mit einem Gefühl des Schreckens. Aufheiterung verspricht meine letzte Begegnung dieser Reise, die für mich im wahrsten Sinne des Wortes das letzte Puzzleteil meines Projektes bildet.

Künstlerin Doreen (46) erlebte mit 16 Jahren den Mauerfall in Ost-Berlin.

Ferropolis - ehemaliger Tagebau

Kontakt: zukunft-radverkehr@bmvi.bund.de

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