Loading

Der Mörder, der keine Angst vor dem Tod hat

Den Lebensabend hinter Gittern verbringen. Zu wissen, dass man nicht in Freiheit altern und sterben wird. Was macht dieses Wissen mit einem Menschen? Ein Besuch bei einem verwahrten Mörder. von Nils Hänggi

Norbert Hochstrasser zündet sich eine Zigarette an. Es ist die erste von vielen, die er während des zweistündigen Gesprächs rauchen wird. Seit bald fünf Jahren sitzt der 64-Jährige in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg ein. Er gehört zu den „Alten“ im Gefängnis, ist einer von elf Insassen der 2011 gegründeten Altersabteilung 60plus. Ihm gefällt es dort: „Ich habe einen Fernseher, einen Wasserkocher, sogar einen Kühlschrank.“ Hochstrasser trägt einen Dreitagebart, seine Haare sind kurz geschoren und vom Zigarettenrauch gelb verfärbt. „Ich werde hier alt und sterbe hier“, sagt er, während er den Rauch inhaliert. „Vielleicht wäre die Todesstrafe besser gewesen. Dann wäre alles schon vorbei.“

Eine Pumpgun und drei Schüsse

Hochstrassers kriminelle Karriere begann in den Siebzigerjahren. Er kidnappte Menschen, zwang sie zu Irrfahrten, zündete Häuser an. 1990 wurde er wegen Erpressung, Brandstiftung und Freiheitsberaubung verurteilt und verwahrt. Vier Jahre später entliess ihn die Justiz wegen guter Führung in die Halbgefangenschaft. Hochstrasser begann in Basel eine Ausbildung zum Behindertenpfleger. Ihm gefiel der Job. Doch dann, im Januar 1997, drang er mit einem Komplizen in die Stadtzürcher „Pension Neugut“ ein, in der er nach seiner Halb-Entlassung eine Zeit lang gelebt hatte. Sein Komplize fesselte den stellvertretenden Heimleiter und einen zufällig anwesenden Bewohner, er stülpte ihnen Säcke über die Köpfe. Als die beiden um Hilfe schrien, schoss Hochstrasser mit einer Pumpgun auf sie. „In den Kopf, drei Schüsse, 33 Gramm eine Kugel“, erzählt er. Seine Stimme ist tief, er atmet schwer. Der Bewohner war sofort tot. Der Heimleiter überlebte schwer verletzt; er nahm sich zehn Monate später das Leben.

Er habe sich mit dem Opfer nie verstanden, es mehrmals vor der Tat gewarnt, sinniert der Mörder. Er bläst den Zigarettenrauch in die Luft, sein Blick schweift in Richtung des vergitterten Fensters. „So war es nur konsequent.“ Eigentlich wollte der 64-Jährige nur den Heimleiter töten, doch der zufällig anwesende Bewohner habe ihn aufhalten wollen. „Dabei riet ich den anderen Bewohnern sogar: Geht fernsehen.“ Der Mörder spricht ruhig und gefasst, wenn er von seiner Tat erzählt; er wirkt fast gleichgültig. „Klar war es Blödsinn. Ich stellte mich am nächsten Tag auch der Polizei“, sagt Hochstrasser. Im November 2000 wurde er zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe und anschliessender Verwahrung verurteilt. Bei der Verhandlung entschuldigte er sich bei den Angehörigen, die Schwester des Heimleiters verzieh ihm.

In der virtuellen Welt eine fleissige Frau

Seither sind viele Tage vergangen. Tage, die immer in den gleichen Strukturen verrinnen und in denen Norbert Hochstrasser gealtert ist und weiter altern wird. Von 7.30 bis 11.30 Uhr und von 13.10 bis 20 Uhr stehen die Zellentüren offen. Dann kann er sich im Trakt frei bewegen. Arbeiten darf der Verwahrte im Gefängnis nicht mehr – trotz Arbeitspflicht hinter Gittern. Hochstrassers Gesundheit ist zu schlecht. Er ist 150 Kilogramm schwer, hat Wasser in den Beinen. Laufen kann er nur noch mit dem Rollator, seine Gelenke schmerzen. „Ich hatte schon zwei Herzinfarkte“, erzählt er, „und ich habe alle Vorzeichen für einen dritten.“ Hochstrasser kratzt sich den Dreitagebart. Trinkt einen Schluck Kaffee, zieht an seiner Zigarette, hustet.

Auch viele wöchentliche Aktivitäten, wie Altersturnen, kann er nicht mehr mitmachen. Basteln klappt noch. Letztens hätten sie Weihnachtskarten gemacht, erzählt Hochstrasser. Er habe ein abstürzendes Flugzeug gemalt. Er grinst. Von Resignation ist bei ihm, in diesem Moment, nichts zu spüren. Anfangs sei es noch die Hölle gewesen, sagt er. Hochstrasser sitzt an seinem Schreibtisch, er schaut aus dem vergitterten Fenster. Seine Hand ruht auf dem Rollator. „Man gibt alles auf. Eigenständig denken und bestimmen ist nicht mehr möglich.“ Aber mit der Zeit gewöhne man sich daran.

Der Mörder zündet sich eine neue Zigarette an und zeigt auf seinen Computer. Verwahrte dürfen im Gegensatz zu Gefangenen im Strafvollzug einen Computer ohne Internetanschluss besitzen. Hochstrasser spielt mehrere Stunden täglich Sims 3. In der virtuellen Parallelwelt ist er eine fleissige, reiche Frau. Nur letztens konnte er nicht spielen. Hochstrasser stürzte schwer, lag mehrere Wochen im Bett; hatte keine Kraft mehr eine Gabel zu halten. „Da fütterte mich mein Zellennachbar. Es war erniedrigend.“ Ein grosser Menschenfreund ist der Verwahrte nicht. Besuch bekommt er keinen. Die Eltern sind tot, die Schwester will er nicht sehen. Er meint: „Ich hab eh nichts zum Erzählen.“

Ein Menschenfreund ist er nicht. Die Eltern sind tot, die Schwester will er nicht sehen. „Ich hab eh nichts zum Erzählen“, sagt er. (Foto: Nils Hänggi)

Der Verwahrte ist 150 Kilogramm schwer, laufen kann er nur noch mit dem Rollator. (Foto: Nils Hänggi)

„Wichtig ist, dass ich nie halbtot im Sarg liege“

Über den Tod denkt der 64-Jährige nicht gross nach. Wie jeder der zwölf Insassen, der Altersabteilung 60plus, wurde auch er von den Vollzugsangestellten mit dem Thema Tod konfrontiert und musste in einer Patientenverfügung seine letzten Wünsche festhalten. Angst vor dem Tod hat der Mörder nicht. „Wichtig ist nur, dass ich nie halbtot im Sarg liege.“ Und was, wenn er diese Nacht sterben würde? Hochstätter hält inne, drückt seine Zigarette aus, überlegt. Vielleicht würde er sich einen guten Kaffee gönnen, „mal zwei Kapseln nehmen“. Doch er wolle nicht darüber nachdenken. „Wenn ich sterben will, dann kann ich es“, sagt Hochstrasser. Eine Überdosis Insulin, die Zigarettenasche schlucken, es gäbe viele Möglichkeiten.

Er streckt seine, in Wollsocken gepackten, Füsse von sich und meint, er freue sich lieber auf den 11. Januar. Dann bereite sein Zellennachbar für ihn und ein paar Angestellte seine berühmte Pastete zu. „Der Abteilungsleiter, der Gefängnisleiter, die Beamten plus ihre Liebsten kommen“, erzählt der Mörder und zieht an seiner Zigarette. „Aber eigentlich würde mir die Pastete auch reichen.“

Viele Justizvollzugsanstalten sind in der Schweiz nicht auf ältere Gefangene eingestellt. (Foto: Nils Hänggi)

Der Tod ist für Verbrecher nicht vorgesehen

In Schweizer Gefängnissen blicken immer mehr Menschen dem Tod entgegen. Darauf vorbereitet sind viele Anstalten nicht. Lenzburg hat aber eine eigene Altersabteilung geschaffen – mit Aquarium und Seniorenturnen. von Nils Hänggi

„Heute gewinne ich!“ ruft ein Asiate mit ergrauten Haaren und mischt die Karten. Ein uniformierter Mittfünfziger, ihm gegenüber, grinst. Gefangener und Vollzugsbeamter sitzen zusammen an einem Tisch. Im Aquarium, in der Ecke des Raumes, schwimmen Goldfische; vor dem vergitterten Fenster steht ein oranges Ledersofa. Es könnte der Aufenthaltsraum eines Altersheims sein – wären da nicht die Gitter, der Wärter mit dem schweren Schlüsselbund und die Metalltüren. Und dennoch: Die Stimmung, in der Altersabteilung 60plus, in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lenzburg wirkt entspannt. 2011 wurde sie eröffnet, sie war der erste Seniorenknast der Schweiz. Die zwölf Zellen der Abteilung könnte das Gefängnis doppelt belegen, so gross ist das Bedürfnis nach Betreuung für alternde Verbrecher.

Immer mehr Alte

Denn nicht nur die Gesellschaft ausserhalb der Gefängnismauern wird immer älter: Waren 2007 etwas mehr als 300 Gefangene zwischen 50 und 60 Jahre alt, sind es zehn Jahre später bereits an die 600. Auch die Anzahl Gefangener über 60 und 70 Jahre stieg markant an. Insgesamt hat sich die Zahl der betagten Straftäter, in den vergangenen dreissig Jahren, mehr als verdreifacht. Bis 2050 rechnen die Fachleute mit bis zu zehnmal mehr Insassen im Seniorenalter.

Die Gründe sind rasch aufgezählt: Es ist die Widerspiegelung des demografischen Wandels, Straftaten werden zu späteren Zeitpunkten im Leben begangen, Verurteilungen erfolgen – wegen Aufhebung der Verjährung – später. Nicht zuletzt ist in der Schweiz ein wachsendes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zu beobachten, was zu einer Zunahme von verwahrten Gefangenen führt. „Bei Gefangenen mit langen Strafen oder mit therapeutischen Massnahmen, wird die Entlassungspraxis äusserst restriktiv gehandhabt“, sagt Ueli Hostettler vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern. In der Politik und bei den Medien gebe es eine Null-Toleranz-Haltung gegenüber gefährlichen Straftätern.

Senioren-Verbrechner haben mehr Freiheiten

Trotz dieser Entwicklung ist der Tod im Justizvollzug bisher kaum Thema. Höchstens als Folge von Suizid und Unfall ist er bis ins Detail geregelt. Das natürliche Sterben aber bleibt in Anstalts-Handbüchern oft unerwähnt. Der Tod gilt als Systemfehler. Hostettler sagt: „Wenn die aktuelle Rechtsprechung zu mehr Todesfällen im Justizvollzug führt, muss auch die Verantwortung dafür übernommen werden.“

Neben der JVA Lenzburg hat bisher aber nur die Justizvollzugsanstalt Pöschwies eine eigene Altersabteilung. „Mein Wunsch ist, dass es irgendwann ein reines Altengefängnis gibt“, sagt Hotz, sodass ein wirklich altersgerechter Bau möglich sei. In Lenzburg würden sie aber das Beste versuchen. So haben die ergrauten Verbrecher mehr Freiheiten. Die Zellen sind den ganzen Tag offen, die Insassen dürfen längere Telefonate führen. Wöchentlich gibt es Altersturnen und Bastelstunden, samstags abends kochen die Gefangenen zusammen. Auch ihre Wäsche waschen sie selber. „Sie sollen das Leben nicht verlernen“, sagt Hotz. Ist es eine Kuscheljustiz? „Nein“, hält der Abteilungsleiter fest, „Es ist ein Funken Wärme. Vielen wird erst der Tod die Freiheit bringen.“

Der Aufenthaltsraum in der 60plus-Abteilung erinnert an einen Gemeinschaftsraum im Altersheim – wäre da nicht die Überwachungskamera. (Foto: Nils Hänggi)

Am Samstagabend können die Gefangen zusammen kochen. (Foto: ZVG/JVA Lenzburg)

Auch die Aktivitäten erinnern an ein Altersheim. So wird neben Basteln auch Altersgymnastik angeboten. (Foto: ZVG/JVA Lenzburg)

Die Behörden stellen sich quer

Die ersten Schritte sind in der Schweiz getan, doch vieles bleibt vage. Walo Ilg, Jurist der Organisation Reform 91, die sich für Strafgefangene einsetzt, kritisiert vor allem die oft unklare Situation. Ilg vertritt einen Gefangenen, der nach einem Hirnschlag halbseitig gelähmt ist. Er braucht Hilfe beim Essen, beim Laufen, auf der Toilette. „Ich versuche eine Verlegung in ein Altersheim zu erwirken“, sagt Ilg. Doch die Behörden seien dagegen. Der Mann sei zu gefährlich, man könne ihn nicht entlassen. „Das ist völlig absurd.“ Aber es gäbe bei den Behörden wohl den Hintergedanken, dass man sich nicht zu viel Mühe geben wolle, denn: „Wenn jemand stirbt, ist man den Fall los“.

In der Altersabteilung der JVA Lenzburg wird der Tod nicht tabuisiert. Jeder Gefangene kann eine Patientenverfügung aufsetzen lassen und eine Anordnung für den Todesfall geben. Die Gefangenen nutzen das Angebot rege, sie sind froh über das Thema reden zu können. Hotz sagt: „Als Beamter ist man Betreuer, Sozialarbeiter und Seelsorger zugleich.“

In der Schweiz ist die Suizidbeihilfe grundsätzlich erlaubt. Dürfen es aber auch Insassen in Schweizer Gefängnissen in Anspruch nehmen? (Symbolbild: pixabay.com)

Darf man sterben, wenn man in Haft ist? Ist der Wunsch nach Suizidbeihilfe im Gefängnis legitim? Die Thematik spaltet die Gesellschaft und ist politisch sehr brisant. Oft ist sie umgeben von Missverständnissen und Vorurteilen. Ein Gespräch von Nils Hänggi mit zwei Involvierten.

Created By
Nils Hänggi
Appreciate

Report Abuse

If you feel that this video content violates the Adobe Terms of Use, you may report this content by filling out this quick form.

To report a copyright violation, please follow the DMCA section in the Terms of Use.