Camilla Estermann, Sr. M. Martina Zum Tod verurteilt wegen Hilfe für Zwangsarbeiter bzw. Kriegsgefangene

Camilla Estermann als Privatperson: Camillas Eltern führten in Linz eine Fleischhauerei. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Camilla ihre berufliche Ausbildung als Näherin mit Auszeichnung. Sie war auch künstlerisch vielseitig begabt und voller Tatendrang, doch ihre körperliche Behinderung (Fuß- und Augenleiden) wies ihre Aktivität in Schranken. Eine natürliche Neigung zu karitativer Tätigkeit prägte ihren Charakter. Am 7. November 1907 bat Camilla um Aufnahme in das Redemptoristinnen-Kloster in Ried i. I., wo sie am 11. November 1908 eingekleidet wurde und den Ordensnamen Maria Martina erhielt. Die einfachen Gelübde legte sie ein Jahr später ab.

Zehn Jahre stellte sie ihre außergewöhnlichen Begabungen als Sängerin, Organistin, Malerin, Schnitzerin, Näherin und Literatin in den Dienst des strengen Klausurordens. Viele ihrer Werke sind bis heute im Kloster St. Anna erhalten geblieben. Zu ihren Werken zählen die Ausmalung der Ölbergszene im Kloster und das Malen von Schmuck für religiöse Feste und Heiligenbildchen für die Gönner des Ordens.

Für jede Schwesternzelle schnitzte sie ein kleines Holzkreuzchen. Im März 2006 übergab die Priorin des Klosters je eines dem Volkskundehaus Ried (Dr. Sieglinde Frohmann) und dem Diözesanarchiv Linz (Dr. Monika Würthinger). In Ried wird es im Lern- und Gedenkort ausgestellt.

Ein Kreuzchen, wie es von Sr. Martina für jeden Zelle geschnitzt wurde

Mit ihren vielfältigen Talenten, ihrer Kreativität fühlte sich Schwester M. Martina im Kloster eingeengt. Am 21. Oktober 1916 meldete sie ihren Austritt aus dem Orden. Mit päpstlichem Dispens wurde sie von den Gelübden der Armut und des Gehorsams entbunden. Sie lebte nun wieder in Linz. Bereits im Sommer 1917 bereute Camilla ihren Klosteraustritt und pflegte häufigen Kontakt mit dem Rieder Kloster und war bei vielen Arbeiten behilflich. So versuchte sie als Näherin und „Mädchen für alles“ die Jahre der Arbeitslosigkeit zu meistern. 1934 bat Estermann um die Wiederaufnahme in Ried. Das bischöfliche Ordinariat riet allerdings dringend von einem Wiedereintritt ab. Estermann trat 1944 in den (weltlichen) Dritten Orden des hl. Franziskus in Linz ein.

Schicksalswege kreuzen sich

Franz Heger, geboren im Dezember 1869 in Grunddorf, Nordmähren, wurde Gendarmeriebeamter in Ried i. I. Er war ein gläubiger Katholik und Mitglied des III. Ordens. Schon diese Mitgliedschaft bezeugt eine enge Geistesverwandtschaft mit Estermann. Sie dürften sich schon kennen gelernt haben, als Camilla nicht mehr in Klausur sondern freie Mitarbeiterin des Klosters in Ried war. Von ihm erhielt sie religiöse Weissagungen, aus denen ein ungünstiger Ausgang des großen Krieges abgeleitet werden konnte. Das bewerteten die Nationalsozialisten als „Wehrkraftzersetzung“.

In der nationalsozialistischen Zeit war Camilla Estermann vom Arbeitsamt einer Linzer Bekleidungsfirma zugeteilt worden, wo auch französische Kriegsgefangene arbeiten mussten. Oftmals klagte sie ihrem Beichtvater ihr Leid, mit ansehen zu müssen, wie Mütter mit ihren Kindern geschlagen wurden und den Launen der Aufseher hilflos ausgeliefert waren. Zehnjährige Mädchen und Burschen wurden sexuell missbraucht, entmenschlicht und so zum Freiwild sadistischer Gelüste. Estermann sah ihre Christenpflicht und karitative Aufgabe darin, den geschlagenen und ungerecht behandelten Kriegsgefangenen kleine Hilfsdienste anzubieten.

  • Diese Hilfsaktion umfasste das Besorgen von Kleidungsstücken, Seifen und Medikamenten. Sehr oft waren auch Lebensmittel und Zigaretten dabei, die sie in einem unbewachten Moment den notleidenden Franzosen zusteckte.

Den Untergang des Dritten Reiches „geschaut“?

Die heilige Ottilie, im Jahre 650 als Herzogin von Elsass blind geboren, wurde 76 Jahre alt. Ihr wird eine Prophezeiung zugeschrieben, die von den Nationalsozialisten als defätistisch bewertet wurde. Die Richter stellten fest, dass diese als Weissagung getarnten Schmähschrift die Verunglimpfungen des Führers und seiner Politik enthalten und den Zusammenbruch des Reiches voraussagen.

In einem Stimmungsbericht des Sicherheitsdienstes (SD) der SS steht: „Wunderglaube als Propagandamittel der Kirchen. […] Die Verbreitung von konfessionellen Kettenbriefen hat in letzter Zeit wieder stark zugenommen. Ein Machwerk, das sich in seiner Sprache ganz offen gegen Staat und Partei richtet, ist die angebliche Vision einer Prinzessin von Savoyen. Zitat: Es werden [in einem Land] Staatsmänner erstehen, die Christus vom Thron stürzen wollen. Viele Leute werden das Kreuz in diesem Land tragen, selbst viele Christen, nicht ahnend, dass es das Zeichen des Satans ist. In diesen Zeiten werden Priester und Ordensleute in Gefängnissen schmachten. Man wird sie als Verbrecher bezeichnen und dann wird der größte Teil des Vermögens der Klöster in ihre Hände fallen. Wenn das verbogene Kreuz an den Kirchentürmen leuchtet, werden sie ihren Triumph auskosten. Gott wird Rom vor dem Schlimmsten bewahren. Die Völker aber, die sich gegen Christus erhoben haben, werden in Flammen aufgehen.“

Heger erhielt eine Abschrift dieser Weissagungen, war beindruckt, schrieb sie ab und gab sie weiter. Eine an Estermann.

1943 kam eine Kopie in die Hände der Gestapo. „Sämtliche Beschuldigten waren sich des gefährlichen und zersetzenden Inhalts der Schriften bewusst“, ist in der Anklage zu lesen. Weiters: „Da die Beschuldigten zugeben müssen, dass sie ihrerseits die Schrift vervielfältigt haben, ist anzunehmen, dass ein weit größerer Personenkreis von dem Inhalt der Schriften Kenntnis erlangt hat, als dies durch die Ermittlungen festgestellt werden konnte.“

Die Widerstandskraft des deutschen Volkes zersetzt

Am 4. November 1943 übersandte der leitende Staatsanwalt beim Sondergericht (in Linz) an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof in Berlin einen Strafakt gegen Camilla Estermann und Franz Heger wegen Verdachtes eines Verbrechens nach § 5 Abs. 1 Ziff. 1 KStVO :

Die genannten Personen wurden beschuldigt, im Sommer 1943 in Linz unter klerikal gebundenen Kreisen Hetzschriften (der hl. Ottilie u. a.), weiterverbreitet zu haben. Diese richten sich gegen den Führer und das Zeitgeschehen und seien „im höchsten Masse geeignet, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu zersetzen“. Konsequenzen aus dieser Strafsache konnten (für die Anzeige von 1943) nicht eruiert werden.

Als im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wieder alle „alten Fälle“ aufgegriffen wurden, erhielt Heger am 19. August 1944 die Mitteilung, dass er am 22. August beim Landesgericht Linz die Anklageschrift des Volksgerichtshofes wegen „Zersetzung des Wehrwillens der Bevölkerung“ und damit Landesverrat in Empfang zu nehmen habe. Er wurde verhaftet und am 25. September 1944 vom VGH in Linz zum Tod verurteilt. Dem Senat gehörte auch der damalige Linzer Oberbürgermeister Franz Langoth an.

14 Personen waren im Prozess angeklagt. Der 74jährige ehemalige Gendarm hat als einziger nicht angegeben, von wem er die inkriminierten Schriften erhalten hatte. Er schützte seinen Informanten und galt deshalb als Autor. Als Ältester sah er sein Leben schon vollendet.

Estermann wurde von einem Gestapowagen in ihrer Linzer Wohnung, Klammstraße 7 abgeholt. Die Anklageschrift lautete auf „Wehrkraftzersetzung“ und „kriegsfeindliche Haltung“ im Betrieb. Sie wurde auch beschuldigt, am 25. September 1944 französischen Kriegsgefangenen eine Flasche Milch gegeben zu haben. Die mitfühlende Frau leugnete nicht, dass sie mit einer Gefangenen ihre Jause geteilt hatte. Am fraglichen Tag kaufte sie zusätzlich für die Kriegsgefangenen unter erheblichen Schwierigkeiten eine Flasche Milch, weil diese Lagerhäftlinge und besonders die Kinder nie einen Tropfen des Grundnahrungsmittels bekamen. Mittels Foltermethoden, die bei Kriegsgefangenen angewendet wurden, konnten Frau Estermann „noch mehrere ähnliche Wohlfahrtsdienste [Hilfen für Kriegsgefangene] nachgewiesen“ werden.

Todesurteile

Beim Volksgerichtshof-Prozess am 25. September 1944 wurden Heger und Estermann als Hauptschuldige „Im Namen des deutschen Volkes! [werden die beiden] wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode und dauernden Ehrverlust“ verurteilt.

Die sechs weiteren Angeklagten erhielten ‚mildere‘ Urteile, weil sie angaben, von wem sie die Schriften erhalten hatten: Fünf Frauen aus Linz wurden zu Zuchthaus zwischen zwei und sechs Jahren(!) und Ehrverlust und eine Jugendliche als „Zuchtmittel“ zu vier Wochen Jugendarrest verurteilt.

Estermann konnte das Abschreiben und Weitergeben der Prophezeiungen nicht nachgewiesen werden. Allein die Begünstigung der Kriegsgefangenen genügte für das Todesurteil.Am 14. November 1944 wurden die beiden Todeskandidaten nach Wien VIII, Landesgerichtsstraße 11, überstellt, am 21. November 1944 in Wien enthauptet.

So gebe ich mein Leben hin …

Aus dem Totenbuch des Landgerichtes Wien VIII – hier 214 Heger - (Quelle, Würthinger) 315 müsste Estermann gewesen sein

Das Urteil wurde am 21. November 1944 an Franz Heger durch das Fallbeil vollstreckt. Im üblichen Rhythmus, zwei Minuten später, an der 63jährigen Camilla Estermann.Die Guillotine nannten die Henkersknechte - die pro Leiche eine Prämie erhielten – zynisch „Köpfler“.

An diesem Tag wurden insgesamt 26 Todesurteile vollstreckt. Die meisten der Hingerichteten, darunter vier Frauen, leisteten als Kommunisten Widerstand gegen das Naziregime.

Unter den Nachlasspapieren der ehemaligen Klosterschwester fand man einen mit Bleistift geschriebenen Zettel:

„O mein Jesus, wie Du Blut und Leben hingegeben hast - so gebe ich bereitwillig mein Leben hin für Dich!“ Der katholische Anstaltsgeistliche des Landgerichtes Eduard Köck schrieb an Verwandte des ermordeten Heger: „Heger […] hat noch viele Abschiedsbriefe geschrieben, die aber von der Gestapo, wie üblich, nicht ausgefolgt sondern vernichtet wurden.“

Die Opfer wurden in Massengräbern am Wiener Zentralfriedhof verscharrt. Im ehemaligen Hinrichtungsraum wurde eine Weihestätte mit einer Gedenktafel mit Namen von 536 Hingerichteten gestaltet. Die Namenstafel steht unter dem Titel „Sie starben für Österreichs Freiheit.“ In Steinerkirchen am Innbach (Gemeinde Kematen a. Innbach) steht ein Bildstock mit vier NS-Opfern: Pfarrer Heinrich Steiner, Franz Jägerstätter, Franz Heger und Camilla Estermann. Dieses Denkmal wurde von Pfarrer Konrad Waldhör initiiert.

  • Der Inhalt stammt weitgehend aus: Gottfried Gansinger, Nationalsozialismus im Bezirk Ried im Innkreis, Widerstand und Verfolgung 1938-1945, StudienVerlag Innsbruck, 2016

© Ein Beitrag von Gottfried Gansinger, Ried im Innkreis / © MKÖ

Literatur:

  1. Chronik / Archiv der Redemptoristinnen, Ried; M. Würthinger in Mikrut, Blutzeugen des Glaubens, Wien 2000, S.109 Estermann und 149 ff. und Heger S. 19 ff.; Camilla Estermann – Märtyrerin der Nächstenliebe – Opfer des NS-Terrors. In: Mitteilungen des Österreichischen Priestervereines 4/1993, 3 f.
  2. Boberach, Meldungen aus dem Reich, dtv 477, München 1968, I, S. 2114, 3576
  3. Die Kriegsstrafverfahrensordnung wurde eigentlich für den militärischen Bereich geschaffen und forderte rigorose Todesstrafen z. B. bei Fahnenflucht wegen Feigheit.
  4. Franz Langoth (1877–1953), BM der Stadt Linz, 1940-1944 Richter beim Volksgerichtshof. In 51 Verfahren fällte er 41 Todesurteile gegen Menschen, die Kritik am Nationalsozialismus geäußert hatten: Walter Schuster, Deutschnational, Linz 1999; Klee, Personenlexikon S. 357
  5. Am 25.9.1944, wurde Estermann und Heger in der Hauptverhandlung zum Tod verurteilt. Auf die Unklarheiten bei zwei Datumsangaben in der Diplomarbeit von P. Anton Wanner, (bzw. Karl Malzer) weist auch Würthinger (wie oben, S. 115ff.) hin.
  6. Archiv der Stadt Ried, 415/06
  7. Sterbebuch des Landgerichts Wien 1944
  8. Estermann Schachtgräberanlage 40, Reihe 32, Grab 181, Heger 29/51
  9. http://www.nachkriegsjustiz.at/vgew/1080_landesgerichtweihestaette.php
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