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Was uns Gemeinde angeht - Teil 3 Auf der Suche nach der perfekten Gemeinde

Hinausblicken

Die Gemeinde, sagte Erzbischof William Tempel, ist „die ein­zige Genossenschaft der Welt, die zum Nutzen ihrer Nicht­mitglieder bestehe".

Das ist die Lektion, die ich besonders klar von der LaSalle Street Church gelernt habe. Die Gemein­den meiner Kindheit hatten betont, wie wichtig die Aus­landsmission ist, und ich harre mich immer auf die jährliche Missionskonferenz mir ihren Ausstellungen von Blasrohren, Speeren und Stammesmasken gefreut. Aber in Chicago lern­te ich, dass der missionarische Auftrag der Gemeinde auch den Anforderungen der eigenen Umgebung gilt. Einer der Gründe, warum unsere „bunte" Gemeinde gut funktionierte, lag darin, dass wir uns in dem Ziel eins machten, die Men­schen unserer Umgebung zu erreichen. Wenn man aktiv an­deren Menschen dient, denkt man weniger an sich selbst.

Nachbarschaftsprogramme entstanden in LaSalle, als die Sonntagsschullehrer feststellten, dass viele Teilnehmer nicht lesen konnten, und ihnen nach dem Sonntagsgottes­dienst Lesen und Schreiben beibrachten. Der Bedarf war enorm, da in unserer Gegend der Anteil der Schulabbrecher bei über 75 Prozent lag. Schon bald kamen ganze Busse mit Studenten des Wheaton College zur LaSalle Street, um Einzel­unterricht zu erteilen. IBM und andere Firmen stifteten Ma­terial und allmählich entstand aus diesen ersten Bemühun­gen ein ausgereiftes Schulungsprogramm.

Da die Bewohner der Sozialwohnungen Übergriffen von Seiten der Polizei und der Vermieter ausgesetzt waren, verliess ein Rechtsanwalt seine Kanzlei, um ein Rechtshilfebüro zu gründen und jedem dieser Mieter eine kostenlose Rechts­vertretung anzubieten. Ein Beratungszentrum wurde errich­tet, in dem die Gebühren nach Einkommen gestaffelt waren. Wie in den meisten amerikanischen Städten waren ein Grossteil der Mütter ledig und bald gründete die Gemeinde auch für sie einen Hilfsdienst.

Immer mehr Nöte kamen zutage. Als eine staatliche Untersuchung ergab, dass ein Drittel des Hunde- und Kat­zenfutters von alten Menschen gekauft wurde, die zu arm waren, um sich "Menschennahrung" zu kaufen, startete die Gemeinde ein Hilfsprogramm für örtliche Senioren. Die Lei­terin veranstaltete Bingo-Spiele, die bei den Senioren sehr beliebt sind, bei denen aber nicht Geld, sondern Lebens­mittelkonserven zu gewinnen waren. Die Senioren hatten Spass, gewannen Taschen voller Lebensmittel und konnten mit unverletzter Würde wieder nach Hause gehen.

Elf Jahre lang leitete meine Frau Janet das Seniorenhilfsprogramm der Gemeinde. Sie stützte sich dabei auf 70 Freiwillige, und ich lernte durch sie, wie viel Gutes eine Gemeinschaft ganz normaler Menschen leisten kann, die sich zusammenschliessen, um den Nöten ihrer Umgebung zu begegnen. Der Moderator eines örtlichen Radiosenders fuhr in seinem roten Sportwagen einmal wöchentlich vor einem baufälligen Haus vor und brachte einem alten Mann, der ans Haus gefesselt war, Lebensmittel. Ein junger Anwalt machte mit seinen Kindern wöchentliche Besuche bei ei­nem Blinden in einem Pf1egeheim. Eine Krankenschwester der Gemeinde machte Hausbesuche. Zweimal in der Woche kochten Freiwillige Mahlzeiten - für viele Senioren die ein­zigen warmen Mahlzeiten der ganzen Woche. Viele dieser Menschen stellten sich zuerst aus Schuldgefühlen oder aus Verantwortungsbewusstsein heraus zur Verfügung. Aber mit der Zeit lernten sie, dass einer der besonderen Vorzüge des Gebens darin besteht, dass man auch etwas erhält. Unser Bedürfnis zu geben reicht genauso tief wie das Bedürfnis des Armen zu bekommen.

Der Evangelist Luis Palau drückte das Wesen der Ge­meinde einmal in einem ausgesprochen deftigen Bild aus.

,,Die Gemeinde", sagte er, ,,ist wie Mist. Wenn man ihn auf­häuft, verpestet er die ganze Umgebung; verteile man ihn, düngt er die Welt."

Wenn ich mich nach einer Gemeinde um­schaue, suche ich nach einer, die erkannt hat, wie wichtig es ist, dass sie den Blick nach außen richtet. Mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Hinwendung zu den Menschen wohl der wichtigste Faktor für das Funktio­nieren oder Nichtfunktionieren einer Gemeinde ist.

Vorstadtgemeinden sollten vielleicht stärker nach Gele­genheiten suchen, andere Menschen zu erreichen; dazu könnte eine Anbindung an innerstädtische Aufgaben gehö­ren oder ein Zusammenschluss mit einem Projekt in Russ­land oder einer Schwestergemeinde in Lateinamerika. Solche Programme mögen durch den hohen Aufwand an Energie und Mitteln zuerst als Belastung erscheinen. Aber ich habe festgestellt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Es ist ein Pa­radox des Glaubens, dass jeder, der Liebe verschenkt, da­durch nicht ärmer, sondern reicher wird.

Nach Innen schauen

Vielleicht als Reaktion auf die Gesetzlichkeit, die er in seiner Kindheit erlebte, wurde Bill Leslie, der Pastor der LaSalle Street Church, nie müde, über das Thema Gnade zu predigen: Er erkannte, dass er selbst unaufhörlich Gnade brauchte, predigte fast jeden Sonntag darüber und vermittelte sie allen in seiner Umgebung auf ganz praktische Art und Weise. Da ich Sonntag für Sonntag unter seinem Einfluss stand, nahm ich nach und nach die Gnade wie durch Osmose in mich auf Ich lernte zum Beispiel zu glauben, wirklich zu glauben, dass Gott mich liebt, nicht weil ich es verdient hätte, sondern weil er ein Gott der Gnade ist. Gottes Liebe wird uns umsonst geschenkt, ohne jede Bedingung.

Es gibt nichts, was ich tun könnte, um Gott dazu zu veranlassen, mich mehr zu lieben - oder weniger.

Gnade, folgerte ich, war der Faktor, an dem es der Ge­meinde meiner Kindheit besonders gemangelt hatte. Wenn unsere Gemeinden es nur verstehen würden, diese Gnade ei­ner Welt zu vermitteln, in der Wettbewerb, Beurteilung und Hierarchien herrschen - einer Welt der Un-Gnade -, dann würde sie ein Ort werden, den Menschen begierig und ohne Zwang aufsuchen würden wie Nomaden eine Oase in der Wüste.

Wenn ich heute eine Gemeinde besuche, schaue ich nach innen und bitte Gott, mich vom Gift der Rivalität und Kritik zu reinigen und mich mit Gnade zu erfüllen. Und ich suche nach Gemeinden, die von Gnade geprägt sind.

Adolphus

Wie Gnade in Aktion aussieht, das habe ich in einer nach­haltigen Lektion vom Umgang meiner Gemeinde mit Adol­phus gelernt, einem jungen Schwarzen mit wildem, zorni­gem Blick. Erfahrungsgemäss hat jede Gemeinde, die im Zentrum einer Grosstadt beheimatet ist, wenigstens einen Adolphus. Er war einige Zeit in Vietnam stationiert gewesen und aller Wahrscheinlichkeit nach hatten seine Probleme dort ihren Anfang genommen. Er konnte einen Job nie län­gere Zeit behalten. Seine Wutausbrüche und sein verrücktes Verhalten brachten ihn gelegentlich in eine Anstalt.

Wenn Adolphus am Sonntag seine Medizin nahm, war er umgänglich. Andernfalls, na ja, andernfalls verlief der Got­tesdienst aufregender als gewöhnlich. Zum Beispiel begann er in der hintersten Bank und kletterte über alle Bankreihen, bis er vorn am Altar angekommen war. Oder er hob während eines Liedes die Hände und machte obszöne Gesten. Oder er trug Kopfhörer, um statt der Predigt Rapmusik zu hören.

Zum Gottesdienst in LaSalle gehörte die so genannte Zeit der „Gebete der Gläubigen". Wir standen alle auf und Ein­zelne sprachen spontan ein Gebet - baten um Frieden in der Welt, um Heilung für Kranke, um Gerechtigkeit in unserer Stadt. ,,Herr, erhöre uns", antworteten wir nach jeder Für­bitte im Chor. Adolphus kam bald auf den Gedanken, dass die „Gebete der Gläubigen" für ihn eine ideale Plattform dar­stellten, persönliche Anliegen zu äußern.

,,Herr, danke, dass du Whitney Houston und ihren herr­lichen Körper geschaffen hast." Nach einer irritierten Pause murmelten einige ein schwaches: ,,Herr, erhöre uns." „Herr, danke für den großen Plattenvertrag, den ich letzte Woche unterschrieben habe, und für all die guten Sachen, die mit meiner Band laufen!", betete Adolphus. Diejenigen von uns, die Adolphus kannten, wussten, dass er nur fanta­sierte, aber andere bekräftigten mit einem aufrichtigen: ,,Herr, erhöre uns."

Regelmäßige Gottesdienstbesucher lernten, bei Adol­phus' Gebeten mit dem Unerwarteten zu rechnen. Besucher hatten keine Ahnung, was sie davon halten sollten: Sie rissen die Augen auf und reckten die Hälse, um herauszufinden, woher denn diese ungewöhnlichen Gebete kamen.

Adolphus bat Gott, die Weißen in der Gemeinde zu rich­ten, die Bürgermeister Harold Washington so unter Druck gesetzt hatten, dass er einen Herzanfall erlitt. Er zog über Präsident George Bush her, der Truppen in den Irak schick­te, während auf den Straßen von Chicago Menschen ermor­det wurden. Regelmäßig hielt er uns über die Fortschritte seiner Band auf dem Laufenden. Manche dieser Gebete stie­ßen auf peinliches Schweigen. Einmal betete Adolphus, „dass die Häuser der weißen Pastorenschurken diese Woche in Flammen aufgehen". Dieses Gebet fand keine Unterstüt­zung.

Adolphus war bereits aus drei anderen Gemeinden ausge­schlossen worden. Er zog es vor, eine Gemeinde zu besuchen, in der Weiße und Schwarze zu Hause waren, weil es ihm Spaß machte, die Weißen zu schockieren. Einmal stand er in einer Sonntagsschulgruppe auf, in der ich lehrte, und er­klärte: ,,Wenn ich ein Maschinengewehr hätte, würde ich euch alle hier in diesem Raum erschießen." Wir Weißen wa­ren schockiere.

Eine Gruppe von Gemeindemitgliedern, darunter ein Arzt und ein Psychiater, nahmen sich Adolphus' besonders an. Jedes Mal, wenn er einen Ausbruch hatte, nahmen sie ihn beiseite und sprachen die Sache mit ihm durch, wobei sehr häufig das Wort „unangemessen" vorkam. ,,Adolphus, viel­leicht ist dein Zorn berechtigt. Aber es gibt angemessene und unangemessene Arten, diesen Zorn auszudrücken. Zu beten, dass das Haus des Pastors niedergebrannt wird, ist de­finitiv unangemessen."

Wir erfuhren, dass Adolphus manchmal die ganzen acht Kilometer zur Gemeinde zu Fuß ging, weil er sich die Bus­fahrkarte nicht leisten konnte. Einzelne Gemeindemitglie­der begannen, ihm Mitfahrgelegenheiten anzubieten. Einige luden ihn anschließend zum Essen ein. Die meisten Weih-

nachtsabende verbrachte er bei der Familie eines unserer Pastoren.

Adolphus prahlte mit seinen musikalischen Fähigkeiten und bat um Aufnahme in die Musikgruppe, die während der Abendmahlsfeiern sang. Es stellte sich heraus, dass er völlig unmusikalisch war. Nach dem Vorsingen bot der Chorleiter ihm einen Kompromiss an: Adolphus durfte mit den ande­ren singen, solange seine E-Gitarre nicht angeschlossen wur­de. Wann immer die Gruppe danach zum Einsatz kam, stand Adolphus in ihrer Mitte und sang und spielte auf sei­ner Gitarre, die aber erfreulicherweise keinen Ton von sich gab. Im Allgemeinen funktionierte dieser Kompromiss recht gut, abgesehen von den Sonntagen, an denen Adolphus sei­ne Medizin nicht genommen hatte und sich inspiriert fühl­te, eine hüftkreisende Joe-Cocker-Imitation auf die Bühne zu legen, während wir Übrigen andächtig nach vorne kamen, um den Leib und das Blut Christi zu empfangen.

Es kam der Tag, an dem Adolphus um die Aufnahme in die Gemeinde bat. Die Ältesten befragten ihn über seinen Glauben, stiessen dabei auf wenig Ermutigendes und be­schlossen, ihm eine Art Probezeit zu gewähren. Er durfte Mitglied der Gemeinde werden, wenn er erkennen ließ, dass er verstand, was Christsein bedeutet, und wenn er es lernte, sich in der Gesellschaft anderer in der Gemeinde angemes­sen zu benehmen.

Entgegen allen Erwartungen fand Adolphus' Geschichte ein Happyend. Er wurde ruhiger. Er fing an, die Gemeinde­mitglieder um Hilfe zu bieten, wenn er merkte, dass er wie­der psychische Probleme bekam. Schließlich heiratete er so­gar. Und beim dritten Anlauf wurde Adolphus schließlich als Mitglied in die Gemeinde aufgenommen.

Gnade erreicht Menschen, die es nicht verdienen, und für mich wurde Adolphus zu einem Symbol für Gnade. In seinem ganzen Leben hatte niemand je diese Art von Energie und Anteilnahme für ihn aufgebracht, die er bei uns gefun­den hatte. Er hatte keine Familie, keine Arbeit, keine Stabi­lität. Die Gemeinde wurde für ihn zum einzigen Haie. Sie akzeptierte ihn trotz all seiner Ausfälle, mit denen er sich bislang Ablehnung eingehandelt hatte.

Die Gemeinde gab Adolphus nicht auf Sie gab ihm eine zweite Chance, eine dritte und eine vierte.

Christen, die Got­tes Gnade erfahren hatten, gaben diese an Adolphus weiter, und diese hartnäckige, unerschöpfliche Gnade hinterließ in mir einen unauslöschlichen Eindruck davon, was Gott er­trägt, wenn er sich dazu entscheidet, Menschen wie mich zu lieben. Heute suche ich nach Gemeinden, die diese Art von Gnade ausstrahlen.

Credits:

Erstellt mit Bildern von Helena Lopes - "Saturday. Summer. Beautiful sunny day, so my friends and I decided to make a picnic and watch the sundown. Pretty fun and relaxed day." • Ryoji Iwata - "walk walk walk" • Юлія Вівчарик - "untitled image" • D O M I N I K J P W - "Every time I go out to shoot, I now there will be something that I never thought about. That makes photography so special. That moment you think, oh wow - that looks nice!" • Kirill Pershin - "Fine evening. Tranquility at heart." • Nina Strehl - "This is Max wearing a cap from LOVE YOUR NEIGHBOUR. The label is a social label from Switzerland that wants to spread lots of world changing love! 12% of their sales goes to homeless and the crew around founder David Togni are always busy loving on people in their world. Have a look att their website loveyourneighbour.ch"