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Leben im Virtuellen Montag, 27 April 2020

Es sind seltsame Tage, immer noch.

Die Pandemie umgibt uns, zwar selbst wenig sichtbar (ich sehe in meinem Alltag keine Erkrankten), aber ihre Konsequenzen durchdringen alle Schichten des Lebens wie ein schwerer, öliger Regen, der nicht und nicht aufhören will.

Gleichzeitig fehlt der wirkliche Regen in der Natur und dieser Frühling ist zwar hell und schön, aber sehr trocken. In der Nachbarschaft machen wir uns Gedanken, wie wir die Flora und Fauna unserer direkten Umgebung schützen und unterstützen können. Die Problematiken des Klimawandels melden sich und blitzen hindurch zwischen den zermürbenden Schleiern der Pandemie. Im Niemandsland zwischen den Gezeiten ist es ungemütlich.

Im Innenhof meiner Nachbarschaft machen wir noch immer jeden Abend außer Sonn- und Feiertags Musik. Inzwischen ist es eine Institution. Menschen stehen an den Fenstern und Balkonen, oder im Park, mit weitem Abstand - und haben dennoch viel von ihrer Anonymität abgelegt, als wäre sie ein Kleidungsstück, das zu tragen man sich vorher bewusst entschieden hätte.

Vor 5 Wochen war davon noch nichts zu ahnen. Alleine das ist ein Erlebnis: wie tiefgreifend und nahe am Privaten eine rasante Neudefinition eingesetzt hat! Mit einem Erdbeben kann man nicht diskutieren, auch nicht mit den gesellschaftlichen und sozialen Folgen von Covid19. Es passieren einfach Dinge, die hingenommen werden müssen. Ob man unter ihnen leidet oder nicht.

Eines dieser Dinge ist, dass wir (schneller als es zuvor schien) aus der Realität in die virtuellen Welten vertrieben werden. Homeoffice, Videokonferenzen, E-learning, Chatgroups, etc.. Musiker und Künstler stellen ihre Inhalte online oder produzieren sie gleich dort als Streaming-Events, als virtuell synchronisierte Proben oder Einspielungen. Restaurants und alle möglichen Läden schließen sich dem vorher schon vorhandenen Trend zum Online-Handel mit Bringservice oder postalischer Auslieferung an. Teure Mietflächen verursachen noch Kosten, aber keine Einnahmen mehr. Zur Zeit zumindest, was danach kommt, weiß niemand sicher.

In der erzwungenen Klausur sind wir mit uns selbst konfrontiert. Es gibt wenig Raum zum ausweichen. Plötzlich ist klar: auch die sozialen Netzwerke sind kein Ersatz für das was fehlt, YouTube und Netflix ebenfalls nicht. Der Familie ohnehin, aber auch der direkten Nachbarschaft kommt plötzlich eine neue Dringlichkeit zu - überhaupt der verbliebenen Interaktion mit wirklichen Menschen.

Im Virtuellen sind wir noch nicht gewohnt wir selbst zu sein, wir amüsieren uns dort, oder regen uns auf. Wir lenken uns dort ab, zelebrieren Parallelexistenzen als Avatare in Spielen oder Meinungsblasen - aber wir leben dort nicht.

Ich glaube nicht, dass das so bleiben kann. Der Ort der gemeinsamen Videokonferenz, auch wenn er nicht real ist, ist dennoch wirklich. Ebenso der Ort des E-learnings. Aber wir können dorthin nicht einfach unserer realen Verhaltensweisen und Erwartungen übertragen. Diese Orte (wirklich, aber nicht real) verlangen etwas Neues, ein neues Sozialverhalten. Einen neuen Kodex, der gerade erst wachsen muss. Ich stelle mir das vor, wie bei dem Entstehen der Städte im Altertum. „Stadt“ ist ganz anders als „Dorf“ - und der „virtuelle Lebensort“ ist wieder etwas anderes.

Ich würde gerne in meiner künstlerischen virtuellen Welt an einem solchen Ort bauen. Würde gerne versuchen, ihn zu erzeugen und als Gastgeber bereit zu stellen für mich und andere. Für meine Nachbarschaft in der Covid19-Krise. Auch wenn ich nur eine Ahnung davon realisieren könnte, wäre ich neugierig darauf.

Dazu transformiert sich, zumindest für den Augenblick, mein Visegrad4-Projekt. Ich kann nicht nach Bratislava reisen, oder nach Polen. Aber ich kann (und "muß" als Künstler) diesen historischen Moment, der die Welt der Menschen verbindet und verändert als mein Motiv annehmen.

Stefan Budian, Mainz am 30. April 2020

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Stefan Budian
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