25 Jahre nach dem Brandanschlag - das Trauma von Solingen 25 Jahre sind seit dem Anschlag auf die familie Genç vergangen. Was ist damals passiert? Wie wurden die Ereignisse aufgearbeitet? Und wie ist es heute bestellt um das "nie wieder" zu gewalt und Rassismus, zu dem sich deutschland damals bekannte? Eine Multimedia-Reportage von Leah hautermans.
Am 29. Mai 1993 werfen Rechtsradikale einen Brandsatz in das Haus der Familie Genç. Die türkischen Solingerinnen Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç Saime Genç und Saime Genç sterben bei dem Anschlag, mehrere weitere Familienmitglieder erleiden teils schwerste Brandverletzungen. Verzweiflung und Wut führen zu zerstörerischen Unruhen in Solingen. Die vier Täter werden wegen Mordes verurteilt und verbüßen lange Haftstrafen.
Das Jahr 1993
Die Mauer ist gefallen, Deutschland jubelt. Doch die euphorische Aufbruchstimmung wird schnell getrübt: Der Osten muss sich an eine neue Alltagskultur gewöhnen, an ein neues System. Mit der Wiedervereinigung kommt auch die Massenarbeitslosigkeit plötzlich in den Osten; Probleme, die sich im Westen über Jahrzehnte aufgebaut haben. Die soziale Schere geht immer weiter auseinander. Arbeits- und Perspektivlosigkeit verängstigt die Menschen, viele verschließen sich und mauern sich ein. Die Enttäuschung und der Frust braucht ein Ventil, doch statt der ostdeutschen Misswirtschaft oder dem kapitalistischen System des Westens die Schuld zu geben, wenden sich insbesondere Ostdeutsche gegen eine vermeintlich schwächere Bevölkerungsgruppe: Einwanderer. Ausländer werden zum Sündenbock, die Asyl-Debatte wird von nun an als Ersatz-Debatte geführt. Es dauert nicht lange, bis das Thema im Wahlkampf aufgegriffen wird. Anschläge auf Asylheime häufen sich, allein 1991 gibt es 500 Straftaten gegen Ausländer und 100 Brandanschläge. Auch in Solingen findet man viele rechtsradikale Symbole im Straßenbild.
Um 1.42 Uhr am 29. Mai 1993 geht die erste Alarmierung bei der Solinger Feuerwehr ein. Von einem Zimmerbrand an der Unteren Wernerstraße 81 ist die Rede. Sofort rücken zwei Löschfahrzeuge, eine Drehleiter, ein Rettungswagen und der Einsatzleiter aus. Während der Anfahrt gehen mehr als 30 Notrufe bei der Feuerwehr ein. Nun ist klar: Ein Wohnhaus steht in Vollbrand. Menschenleben sind in Gefahr. Weitere Kräfte rücken unmittelbar danach aus. Durch die Vielzahl der Anrufe sind die Notrufleitungen inzwischen belegt. Die ersten Kräfte treffen um 1.47 Uhr ein. Immer wieder wird nachalarmiert. Viele Solinger werden in dieser Nacht durch die Sirenen der Fahrzeuge geweckt, die zur Unteren Wernerstraße ausrücken. Den meisten ist schnell bewusst, dass etwas Schreckliches passiert sein muss.
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Die Rettungskräfte erreichen Familienvater Durmus Genç während der Nachtschicht. Sofort fährt er nach Hause. Doch das, was bis vor wenigen Stunden ein Haus voller Leben und Freude war, ist nur noch ein loderndes Gerippe. Gürsün Ince († 27), Hatice Genç († 19), Gülüstan Öztürk († 12), Hülyia († 9) und Saime Genç († 4) werden in dieser Nacht ermordet. 14 weitere Familienmitglieder zum Teil lebensgefährlich verletzt. Hier geht es zur Rekonstruktion der Ereignisse von Verena Willing.
„Lasst uns Freunde sein“ - Mevlüde Genç im Kampf gegen den Rassismus
Mevlüde Genç verliert bei dem Brandanschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Sie wird den 29. Mai nie vergessen. Doch trotz des herrschenden mörderischen Fremdenhass, der in dem Verbrechen an Familie Genç kulminiert, bleibt sie in Solingen. Zwei Jahre nach der Tat nimmt sie die deutsche Staatsbürgerschaft an. Sie setzt sich für die Verständigung und den Dialog zwischen der deutschen Bevölkerung Solingens und der türkischstämmigen Bevölkerung in der Stadt ein und bekommt dafür 1996 das Bundesverdienstkreuz verliehen. „Lasst uns Freunde sein“, sagt sie und pflegt viele Kontakte zu Solingern mit deutschen und türkischen Wurzeln.
„Solingen liebe ich trotz des Anschlags noch wie meine Heimat. [...] Für mich gibt es zwischen Deutschen und Türken keinen Unterschied.“
2015 ist Mevlüde Genç mit dem nordrhein-westfälischen Verdienstorden ausgezeichnet worden. „Mevlüde Genç ist eine starke Stimme gegen Fremdenfeindlichkeit geworden, die jene zum Schweigen bringt, die noch immer und immer wieder Intoleranz und Hass verbreiten wollen“, lobt die damalige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Für viele ist die kleine Frau mit dem Kopftuch zum Symbol für menschliche Größe geworden.
Die Ermittlungen
Am 4. Juni werden drei junge Männer im Alter zwischen 16 und 23 Jahren aus der Solinger Neonazi-Szene aufgrund eines vorläufigen Haftbefehls wegen Mordes und schwerer Brandstiftung festgenommen. Sie werden zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe geflogen. Kurz danach wird der vierte Tatverdächtige ermittelt.
Ein 16-Jähriger gesteht die Tat noch am Abend seiner Festnahme. „Dieses Haus wird brennen“ soll er gegenüber seinen Freunden in einer Wohnung in der Nachbarschaft von Familie Genç angekündigt haben.
Der Prozess gestaltet sich schwierig
Zwei der Täter bestreiten eine Tatbeteiligung bis heute. Nur der zur Tatzeit 23-Jährige hat ein Geständnis abgelegt: Die drei anderen Angeklagten und er hätten den Brand gelegt. Einmal widerruft er es für ein paar Tage, dann hält er am Geständnis bis zum 80. Prozesstag fest – um dann erneut zu widerrufen. Der zur Tatzeit 18-jährige Nachbarsjunge der Familie Genç rundet damals das Wirrwarr ab: Er habe das Haus der türkischen Familie allein angesteckt, nur „um Rabatz zu machen“, mehr nicht. Sein Geständnis soll nach 17 vorangegangen Versionen sein endgültiges sein, erklärt sein Anwalt vor Gericht.
Nach über 125 Verhandlungstagen steht das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf: Markus G. wird wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung zu 15 Jahren Haft verurteilt, Felix K., Christian R. und Christian B. jeweils zur höchsten Jugendstrafe von 10 Jahren.
Was aus den Tätern von Solingen geworden ist
Die vier Verurteilten sind längst auf freiem Fuß, leben in verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens. Nach verbüßter Strafe haben die damals noch jungen Solinger ihr Leben nicht mehr in den Griff bekommen. Hans-Peter Meurer zeichnet den Weg der Verutreilten nach.
Aus Trauer wird Wut - Demonstrationen in Solingen
Der brutale Anschlag auf die türkischstämmige Familie löst heftige Reaktionen aus. Die Tage danach sind geprägt von Chaos, Wut und Trauer. Am 30. Mai ist in der Solinger Innenstadt über eine Strecke von rund einem Kilometer fast jede Schaufensterscheibe eingeschlagen. Sämtliche Telefonzellen sind demoliert, Mülleimer kokeln vor sich hin. Es sind gewalttätige Ausschreitungen türkischer Jugendliche. Doch es ist keine einheitliche Bewegung. „Das haben wir nicht gewollt“, kommentiert ein türkischer Jugendlicher die verwüstete Innenstadt während der Aufräumarbeiten. Die meisten der zahlreichen Demonstrationen verlaufen friedlich. „Wir wollen Frieden“, rufen Türken vor dem völlig zerstörten Haus in der Unteren Wernerstraße immer wieder. Blumen werden niedergelegt, Totengebete gehalten.
Rolf Schlupp nahm die Demonstration am Tag nach dem Anschlag auf.
Am 5. Juni kommt es dann erneut zu gewaltsamen Ausschreitungen: Was am Ort des tödlichen Brandanschlags als zentrale Kundgebung für ein friedliches Miteinander von Deutschen und Ausländern gedacht war, endet in Chaos und Gewalt. Nach einem Sternmarsch versammeln sich etwa 12.000 Demonstranten in der Innenstadt, als zwei verfeindete türkische Gruppen aufeinander losgehen. Darunter auch die rechtsextremen „Grauen Wölfe“ - es wird mit Messern und Stangen gekämpft.
Die Bilanz der Polizei am 6. Juni: 36 zumeist leicht verletzte Polizisten, 35 verletzte Demonstranten, 31 Festnahmen wegen Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz. Es entsteht ein Sachschaden im Wert mehrerer Millionen D-Mark.
Einen Kontrast zu den Gewalttaten dieser Ausschreitungen bilden die vielen friedlichen Kundgebungen, mit denen Zehntausende von Deutschen und Türken gegen Fremdenfeindlichkeit demonstrieren.
25 Jahre später
Jedes Jahr findet in Solingen am 29. Mai eine Gedenkfeier statt, bei der am Tatort an die Opfer erinnert wird. 2018, 25 Jahre nach dem Brandanschlag, nimmt auch Außenminister Heiko Maas (SPD) an der Gedenkfeier teil, ebenso viele weitere Politiker wie NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Zur Gedenkfeier der Landesregierung in Düsseldorf kommt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
„Es liegt im Landesinteresse, an den Anschlag und an die Größe, die Frau Genç bewiesen hat, zu erinnern.“
„Mevlüde Genç, die warmherzige Mutter der Familie, rief schon am Tag nach dem schmerzhaften Verlust von zwei Töchtern, zwei Enkelinnen und einer Nichte zur Versöhnung auf. Ihren Landsleuten rief sie zu: Es waren nicht die Deutschen, sondern Einzeltäter. „Nur die Versöhnung überwindet den Hass. Ich vertraue den deutschen Behörden, die Täter zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen.“ Mevlüde Genç ist die beeindruckendste Frau, die ich je kennengelernt habe. Auch im tiefsten Schmerz keine pauschale Verurteilung – davon können manche lernen, die vorschnell über „die Flüchtlinge“, „die Muslime“, „die Türken“ hetzen, wenn einzelne Täter Straftaten begangen haben.“
Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident des Landes NRW, blickt in seinem sehr persönlichen Gastbeitrag in der Westdeutschen Zeitung zum 25. Jahrestages des Brandanschlags zurück auf die Ereignisse und Entwicklungen - und schaut in die Zukunft. Hier geht es zum Gastbeitrag in voller Länge.
Ein Mahnmal zum Gedenken der fünf Ermordeten ist auf dem Gelände des Mildred-Scheel-Berufskollegs, auf das Hatice Genç ging, errichtet worden. 10.000 Menschen kommen 1994 am ersten Jahrestag des Brandanschlags zur Einweihung. Heinz Siering, Leiter der Solinger Jugendhilfe-Werkstatt, initiiert das Projekt, gestaltet wird es nach einem Entwurf der Künstlerin und Kunsttherapeutin Sabine Mertens. Zwei große Metallfiguren – ein symbolisches Elternpaar – umrahmt von einem Wall aus handgroßen Metallringen, zerreißen ein Hakenkreuz. Jeder Ring trägt einen Namen.
„Der Anschlag knallte in mein unbeschwertes Leben, das so frei war von Rassismus. Mir wurde klar, die Toten hätten meine Geschwister sein können. Vielleicht fühle ich mich Mevlüde Genç deshalb so nah, weil sie aussieht wie meine Mutter. Sie bindet ihr Kopftuch genau wie sie, mit zwei Knoten unterhalb ihres Kinns.“
Schriftstellerin Hatiçe Akyün erlebte den Brandanschlag in Solingen 1993 als 23 Jährige. In einem Gastbeitrag für unsere Redaktion blickt sie zurück - und stellt die Frage, wie es in Deutschland derzeit eigentlich bestellt ist um „dieses „nie wieder“, das Opfer seit Jahrzehnten hören." Denn: „Es muss wie Hohn klingen. Bald ist auch der NSU-Prozess in München vorbei. „Nie wieder“ werden wir dann sagen, wenn Beate Zschäpe verurteilt wurde. Wenn sie lebenslänglich bekommt, ist der Fall dann abgeschlossen? Lehnen wir uns dann beruhigt zurück? Die Blutspur, die der NSU über zehn Jahre durch Deutschland gezogen hat, ist von den Sicherheitsbehörden weder konsequent verfolgt noch in den richtigen Zusammenhang gestellt worden.“ Hier gibt es ihre Betrachtungen und Gedanken in voller Länge.
Der 25 Jahre zurückliegende rassistisch motivierte Brandanschlag hat junge Solingerinnen dazu veranlasst, filmisch an die Ereignisse zu erinnern und sich mit Mevlüde Genç zu einem Interview zu treffen. Der Dokumentarfilm entstand als gemeinsames Projekt der jungen Solinger mit dem Medienprojekt Wuppertal.
Credits:
ST-Archiv/retill, Leah Hautermans, dpa