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Ich kenne Viele in meinem Umfeld, die nicht gerne telefonieren. Und ich gehöre auch dazu. Um mehr über die sog. Telefonphobie herauszufinden, sprach ich mit Frau Dr. phil. Estelle Nahia Hauser. Sie ist leitende Psychologin der Psychotherapie-Tagesklinik, Psychiatrische Dienste Graubünden.

Doch nicht nur meine Neugierde zum Thema zog mich zu Frau Hauser, sondern auch ein Konzept für eine Web-App, welches wir zu zweit im Rahmen des Majors «Media Application» konzipieren – Ein Konzept, das wir nach meinem geführten Interview nochmals überdenken müssen.

Interview geführt von Maja Manojlovic

MM: Frau Hauser, wann spricht man von einer Telefonphobie?

ENH: Mit Phobien meint man spezifische Ängste. Sie können vereinzelt vorkommen, sind aber oft im Rahmen einer umfassenderen Angst- und/oder einer Persönlichkeitsproblematik zu sehen. Die Telefonphobie hat mit Ängsten in sozialen Interaktionen zu tun. Man spricht von einer Phobie, wenn die Person durch ihre Ängste in ihrem Alltag eingeschränkt ist, ein Leidensdruck besteht und wenn ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten vorliegt. Phobien sind als Ängste erlernt. Wenn ich in einer bestimmten Situation eine sehr schwierige Erfahrung mache, werde ich dazu tendieren, diese Art von Situation zu vermeiden, und diese Vermeidung führt zur Steigerung der Ängste. In diesem Fall heisst das, dass man nicht telefoniert, obwohl es gut wäre, etwas telefonisch zu erledigen, was unter Umständen negative Folgen haben kann.

«Diese Entscheidung muss die betroffene Person selbst treffen.»

MM: Muss jeder, der ungern telefoniert, behandelt werden?

ENH: Über Behandlungsbedürftigkeit entscheiden die Betroffenen selbst. Von fachlicher Seite wird ein Problem mit Krankheitswert mit Begriffen einer Diagnose bezeichnet. Von der Diagnose leitet sich die indizierte Therapie ab. Hinsichtlich der persönlichen Motivation für eine Therapie werden die Fragen sein: wie eingeschränkt ist man im Alltag und welchen Leidensdruck gibt es? Wenn die betroffene Person sich per E-Mail verständigt, dadurch keine Einschränkung und keinen Leidensdruck hat, dann wird sich diese Person eher nicht an Fachkräfte wenden. Somit erfolgen auch keine Diagnosestellung und keine qualifizierte Therapie - was nicht bedeutet, dass die betroffene Person sich nicht aus eigener Kraft daraus herausarbeiten kann, wenn sie sich konsequent der schwierigen Aufgabe stellt. Es ist eine subjektive Entscheidung, ob man damit leben kann oder konsequent etwas daran ändern will. Diese Entscheidung muss die betroffene Person selbst treffen. Meistens wenden sich Betroffene an Fachkräfte, wenn ein starker Leidensdruck besteht und dann kommt auch eine Diagnose ins Spiel. Die Diagnose ist ausserdem auch eine Eintrittstüre ins Gesundheitssystem für die Finanzierung der Therapie.

MM: Dann muss man sich zuerst selbst eingestehen, dass man vielleicht Hilfe braucht, damit eine Diagnose überhaupt erstellt werden kann?

ENH: Genau, das ist der subjektive Aspekt. Es gibt aber auch die Fremdperspektive. Nehmen wir an, ich habe Mühe mit dem Telefonieren. Ich drücke mich ständig davor, sodass es für mich zur Gewohnheit wird, meine Aufgaben ohne Telefon zu erledigen. Vielleicht meine ich, damit leben zu können, aber vielleicht wird mein Partner mich darauf aufmerksam machen, dass ich mir durch mein Vermeidungsverhalten Probleme einbrocke, die mich drängen, mich in eine Therapie zu begeben. Insbesondere dann, wenn er als Partner auch mit allfälligen Konsequenzen leben muss. Somit kann die Fremdperspektive auch ein Grund dafür sein, dass sich Betroffene in eine Therapie begeben. Aber für die Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie braucht es mindestens im Verlauf eine genügende Eigenmotivation.

«Die Telefonphobie könnte nur die Spitze eines Eisberges von anderen Problemen sein.»

MM: In meiner Recherche habe ich herausgefunden, dass diese Phobie auch mit der Soziophobie (Angst vor anderen Menschen) zusammenhängt. Steckt da der Ursprung der Telefonphobie?

ENH: Das ist eine diagnostische Frage. Eine Diagnose fasst Vorläufer und Symptomatik* zusammen, wovon sich in der Regel auch ein Ausblick auf die Weiterentwicklung der Beschwerden ableiten lässt. Die Telefonphobie könnte nur die Spitze eines Eisberges von anderen Problemen sein: Wenn ich depressiv bin, ziehe ich mich zurück und dann will ich auch weniger telefonieren. Diese Angst könnte sich auch so weiterentwickeln. Die Diagnose «Telefonphobie» gibt es in den Diagnosemanualen als solche nicht, sondern sie gehört tatsächlich zu der sozialen Phobie. Das zeigt sich dadurch, dass Betroffene oft Schwierigkeiten haben, vor Leuten zu sprechen, meistens, weil eine geprägte Bewertungsangst vorliegt. Vielleicht liegt aber der Phobie eine wiederum geprägte bzw. erlernte Angst vor Autoritäten zugrunde. Und das alles lässt sich auf biografische Faktoren zurückführen. Das wird konditioniert gelernt: Wenn ich etwas nicht mache, fällt es mir in der Folge umso schwerer; ich denke automatisch an all die schlimmen Sachen, die passieren könnten. Also vermeide ich es umso mehr und erfahre dadurch nie, dass es eigentlich gehen könnte. So prägen sich die Ängste ein. Speziell bei der Telefonphobie besteht zudem die Besonderheit, dass man das Gegenüber nicht sieht. Und wenn ich ängstlich bin, kann ich eher phantasieren, dass mich die Person beurteilt, verurteilt, ablehnt oder kritisiert. Das gehört, denke ich, bei der Entwicklung dieser Angst mit dazu.

MM: Folglich ist die einzige Möglichkeit der Behandlung, sich der Angst zu stellen und in unserem Fall: Telefonieren.

ENH: Das ist so. Wählt man bei Ängsten den Weg der Therapie, entscheidet man sich für eine dosierte Konfrontation mit den Ängsten.

«Und da ist man einer Panikattacke nahe.»

MM: Betroffene berichten in Foren von schwitzenden Händen bis hin zu Panikattacken. Gibt es typische Symptome oder reagiert jeder anders?

ENH: Angst ist ein physiologisches Phänomen. Da kommt es bei der Symptomatik* nicht so stark darauf an, vor was man Angst hat. Letztendlich ist es eine körperliche Stressreaktion, die eintritt: Rötungen, Herzschlag, Herzpochen, Schwitzen, Zittern, Beinschwäche, Übelkeit, Durchfall bis hin zur Ohnmacht. Und da ist man einer Panikattacke nahe. Das sind alles Symptome bei starkem Stress.

MM: Sie meinten vorhin, man müsse sich der Angst stellen. Muss man anders behandelt werden, wenn man Angst vor dem «Anrufen», als wenn man Angst vor dem «Telefonabnehmen» hat?

ENH: Die Behandlungsrichtung und das therapeutische Vorgehen hängen von der Anamnese** ab. Das ist sehr unterschiedlich und individuell. Damit man weiss, wo man bei der Konfrontation ansetzen muss, erstellt man am besten eine Hierarchieliste mit dem, was für einen persönlich am schlimmsten ist und dem, was einigermassen geht. Eine Konfrontation würde man heutzutage zuerst auf einem leichteren Schwierigkeitsgrad machen. Es geht ja darum, dass man Vertrauen schafft und dass man auf Erfolgserlebnissen aufbauen kann. Danach stellt man sich den schwierigeren Aufgaben.

MM: Gibt es denn etwas, dass die Betroffenen in ihren Alltag bauen könnten, um die Angst neben den Behandlungsstunden zu therapieren?

ENH: Die Behandlungsstunde ist mehr ein Anstoss. Es liegt an den Betroffenen selbst, die Therapie umzusetzen.

«Das sieht man auch in der Tierwelt.»

MM: Sind Ängste vererbbar?

ENH: Meines Wissens, ja. Es gibt einen genetischen Faktor und es gibt den noch stärkeren Lernfaktor; Wenn eine Mutter Angst vor etwas hat und dies das Kind merkt, eignet es sich die Angst an. Das sieht man auch in der Tierwelt: Wenn ein Schimpansenkind nicht weiss, dass Schlangen gefährlich sind, aber sieht, dass die Mutter die Schlange verängstigt verjagt, lernt das Kind diese Angst und das entsprechende Verhalten. Bei uns Menschen funktioniert es auch so.

MM: Gibt es viele Leute, die sich wegen der Telefonangst therapieren lassen?

ENH: Meines Wissens kommt es nicht häufig vor. Ich denke, die Telefonphobie würde eher im Rahmen einer umfassenderen Angstproblematik, wovon sie eine Ausprägung ist, behandelt werden. Es ist möglich, dass jemand eine Therapeutin oder einen Therapeuten deswegen aufsucht, aber wohl erst dann, wenn die Angst sehr stark ist und wenn sich das Telefonieren nicht vermeiden lässt. Aber wenn die Angst nur so nebenbei abläuft und man damit leben kann, braucht es vielleicht keine Therapie. Dass sich jemand wegen einer Telefonphobie an sich bei mir gemeldet hat, gab es noch nie. Das heisst aber nicht, dass es das nicht gibt. Das ist jetzt nur meine Erfahrung.

MM: Angenommen, es gäbe eine App, mit der man Telefongespräche simulieren könnte, mit dem Hintergedanken «Übung macht den Meister». Wäre das hilfreich?

ENH: Wenn wir davon ausgehen, dass die Telefonphobie daherkommt, dass ich Beurteilungsängste habe, eine Angst mich zu zeigen oder bewertet bis gar abgelehnt zu werden, dann würde Konfrontation mit einem Telefonroboter das Wesentliche der Problematik nicht ansprechen, denn ein Telefonroboter wird mich nie bewerten oder ablehnen. (…) Was man mit einer App bestimmt trainieren kann, sind Grundkompetenzen, z.B. wie bereite ich mich auf ein Telefonat vor oder wie kann ich in welchen Situationen antworten. Das sind Sachen, die man üben kann. Aber wenn der Kern darin liegt, dass man sich beurteilt fühlt - da wird wohl die App nicht von grosser Hilfe sein.

MM: Was müsste die App beinhalten, damit sie hilfreich wäre?

ENH: Es wäre wahrscheinlich sinnvoll, wenn eine solche App die Hintergründe und Implikationen des Problems erklären und Ratschläge geben würde. Es gibt verschiedene Arten von Tipps: wie man sich auf ein Gespräch vorbereitet, wie man die Leute anspricht, was man fragen oder sagen könnte – das wäre das Inhaltliche; Optionen je nach Verlauf des Gesprächs. Es gibt aber auch die innere Haltung; wie erlangt man Selbstsicherheit? Wenn man z.B. stehend, statt sitzend telefoniert, dann hat man „mehr Rückgrat“. Tipps, wie ich gegen die Angst angehen kann, indem ich mich vergewissere, was ich Wert bin und was ich schon erreicht habe. Ganz grundsätzlich Tipps, wie man diese Haltung annehmen kann. Ein Tipp wäre auch sich entsprechend anziehen, etwa Arbeitskleidung anziehen, wenn man mit einem künftigen Arbeitgeber telefoniert.

MM: Was, wenn die Angst nicht von der Bewertungsangst kommt, sondern von der Kommunikation an sich mit anderen? Gibt es dann eine Chance für die App?

ENH: Angst ist ein Gefühl. Ein negatives Gefühl kommt von einer Situation von Bedrohung. Es wird keine Ängste ohne subjektiv wahrgenommener Bedrohung geben. Wahrscheinlich hat man dann nicht Angst vor Kommunikation an sich, sondern weil man sich bedroht fühlt. Die Frage ist, wie ist das geprägt? Woher kommt das?

«Konfrontation funktioniert nicht einfach nur für sich allein gestellt.»

MM: Dann denken Sie, dass das Subjektive technisch mit einer App gar nicht behandelt werden kann?

ENH: Ich denke, dass es helfen kann, das Kommunikativ-Technische, Vorbereitung und Vorgehensweisen zu vermitteln. Aber an die tieferen Zusammenhänge und an das Wesen der Angst wird man nicht herankommen. Vor der Konfrontation an sich muss therapeutisch Einiges aufgearbeitet werden. Wenn es jemandem schlecht geht z.B. wegen einer Kündigung oder Trennung des Partners, können die Ängste bzw. die subjektive Bedrohungssituation die Oberhand übernehmen und es kann passieren, dass die Angst grösser wird. Das sind Zusammenhänge, die man verstehen und die man einbauen muss. Konfrontation funktioniert nicht einfach nur für sich alleingestellt. Sie muss in einem Sinnkontext eingebettet sein, der mir eine Erklärung gibt. Das wiederum gibt mir Motivation, konsequent etwas dagegen zu machen.

MM: Was würden Sie sagen, wenn man in der App mit anderen Betroffenen telefonieren könnte?

ENH: Ich nehme an, Leute, die ungern telefonieren, werden viel E-Mails schreiben und unter Umständen auf Plattformen tätig sein. Es sei denn, die Angst ist so stark, dass man nicht mehr von einer Telefonphobie spricht, sondern von einer Angstproblematik, bei der man sich völlig zurückzieht. Ein Austausch auf einer Plattform ist sicher sehr sinnvoll, auch wenn da manchmal nicht sehr nützliche oder gar kontraproduktive Ratschläge verbreitet werden. Ich bin nicht sicher, ob ein Telefonieren von einer solchen App aus wirklich einen Bedarf anspricht und vor dem dargestellten Hintergrund genutzt wird.

MM: Wie sieht Ihr Fazit aus?

ENH: Bei der Telefonphobie handelt es sich um ein zwischenmenschliches Thema, das mit Interaktion zu tun hat. In diesem Fall vermeiden Betroffene das Telefon. Heutzutage muss man ja kommunizieren. Man vermeidet das Telefonieren, indem man unterschiedliche Medien/Plattformen benutzt, bei denen man nicht im direkten Kontakt ist. Mit einer App würde diese Vermeidungsstrategie meines Erachtens letztlich eher unterstützt werden.

MM: Dann ist eine App das falsche Medium?

ENH: Ja, weil das eine Unterstützung von den Medien ist, die die Leute benutzen, um das Telefonieren zu vermeiden. Das ist jetzt plakativ gesagt. Man kann sicher einiges Gute damit erreichen. Ich denke, dass so eine App eher eine Vorbereitung bieten kann. Mit dem Wesentlichen müsste man sich persönlich in einem zwischenmenschlichen Kontakt auseinandersetzen. Die therapeutische Wirkung tritt ein, wenn ich das Risiko eingehe, beurteilt zu werden und dabei eine korrektive Erfahrung mache. Und so wie ich das verstehe, kann eine App das nicht leisten.

MM: Frau Hauser, danke, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben.

*alle auftretenden Symptome

**Im Anamnesegespräch erfährt der Arzt die Vorgeschichte des Patienten und kann durch gezielte Fragen wichtige zusätzliche Hinweise und Informationen gewinnen. Quelle: https://www.netdoktor.de/diagnostik/anamnese/

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