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DIE HEILUNG VOM LEIDEN Punta de Vacas, Mendoza, Argentinien 4. Mai 1969

Ilustraciones de Rafael Edwards

Die argentinische Militärdiktatur hatte alle öffentlichen Veranstaltungen in den Städten verboten. Als Folge davon wurde eine verlassene Gegend gewählt, die als Punta de Vacas bekannt ist und im Grenzgebiet Chiles und Argentiniens liegt. Vom frühen Morgen an kontrollierten die Behörden die Zugangsstraßen. Man konnte Maschinengewehr-Nester, Militärfahrzeuge und bewaffnete Männer erkennen. Um durchgelassen zu werden, musste man seinen Personalausweis und seine Papiere vorzeigen, was einige Auseinandersetzungen mit der internationalen Presse hervorrief. In einer wundervollen Kulisse verschneiter Berge begann Silo seine kurze Ansprache vor einem zweihundert Personen umfassenden Publikum. Es war ein kalter und sonniger Tag. Gegen 12 Uhr mittags war alles vorbei.

Heute, fünfzig Jahre später, ist seine Botschaft wichtiger denn je.

Wenn du gekommen bist, um einen Menschen anzuhören, von dem man behauptet,er vermittle die Weisheit,

so hast du den falschen Weg gewählt;

denn wirkliche Weisheitlässt sich nicht durch Bücher oder Reden vermitteln.

Die wirkliche Weisheit liegt in der Tiefe deines Bewusstseins,

so wie die wahre Liebe in der Tiefe deines Herzens ruht.

Wenn du gekommen bist, aufgestachelt von Verleumdern und Heuchlern, um diesen Menschen anzuhören, nur damit dir das, was du hörst, später als Argument gegen ihn dienen kann,

so hast du den falschen Weg gewählt. Denn dieser Mensch ist weder hier, um irgendetwas von dir zu verlangen, noch, um dich auszunutzen, denn er braucht dich nicht.

Du hörst einem Menschen zu, der die Gesetze nicht kennt, die das Universum regieren, der nichts weiß von den Gesetzen der Geschichte und den Beziehungen, die unter den Völkern herrschen.

Dieser Mensch wendet sich – weit weg von den Städten und ihrem krankhaften Ehrgeiz – an dein Bewusstsein.

Dort in den Städten, wo jeder Tag ein Streben bedeutet, das vom Tod vereitelt wird, wo Hass der Liebe folgt und Rache der Vergebung;

dort in den Städten der Armen und Reichen, dort auf den weiten Feldern der Menschen, hat sich ein Schleier des Leidens und der Traurigkeit ausgebreitet.

Du leidest, wenn der Schmerz an deinem Körper nagt. Du leidest, wenn der Hunger sich deines Körpers bemächtigt. Aber du leidest nicht nur an den unmittelbaren Schmerzen deines Körpers, nicht nur am Hunger, den dein Körper empfindet. Du leidest gleichermaßen an den Folgen der Krankheiten deines Körpers.

Du musst zwei Arten von Leiden unterscheiden: einerseits das Leiden, das in dir aufgrund der Krankheit entsteht – und dieses Leiden geht dank dem Fortschritt der Wissenschaft zurück, ebenso wie der Hunger zurückgehen kann, wenn Gerechtigkeit herrscht.

Es gibt andererseits eine Art von Leiden, die nicht von den Krankheiten deines Körpers abhängt, sondern sich von ihnen herleitet:

Wenn du körperlich behindert bist, wenn du nicht sehen oder hören kannst, so leidest du.

Aber obwohl sich dieses Leiden von deinem Körper ableitet oder von den Krankheiten deines Körpers, so entspringt es doch eigentlich deinem Geist.

Du musst wissen, dass dieses Leiden immer aus der Gewalt stammt, die es in deinem eigenen Bewusstsein gibt.

Du leidest, weil du das zu verlieren fürchtest, was du besitzt, oder weil du bereits etwas verloren hast oder weil du etwas verzweifelt zu erreichen suchst. Du leidest, weil du etwas nicht haben kannst oder weil du ganz allgemein Angst hast ...

Das sind die großen Feinde des Menschen: die Angst vor der Krankheit, die Angst vor der Armut, die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Einsamkeit.

All das sind Leiden deines Geistes selbst. Sie alle verraten die innere Gewalt, die Gewalt, die in deinem Geist vorhanden ist. Beachte, dass sich diese Gewalt immer aus dem Verlangen herleitet.

Je gewalttätiger ein Mensch ist, desto niedriger ist sein Verlangen.

Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, die sich vor langer Zeit ereignet hat:

Es lebte einmal ein Reisender, der eine lange Reise machen musste. Zu diesem Zweck spannte er sein Tier vor einen Wagen und machte sich auf den langen Weg zu einem weit entfernten Ziel.

Seine Zeit aber war begrenzt.

Das Tier nannte er "Bedürfnis", den Wagen "Verlangen",

ein Rad nannte er "Lust"

und das andere "Schmerz"

So lenkte der Reisende seinen Wagen nach links und nach rechts, behielt dabei aber immer die Richtung auf sein Ziel bei.

Je schneller der Wagen fuhr, desto schneller bewegten sich auch die Räder der Lust und des Schmerzes, denn beide waren ja durch dieselbe Achse verbunden und trugen den Wagen des Verlangens.

Da die Reise sehr lang war, langweilte sich unser Reisender.

So beschloss er, den Wagen zu schmücken, ihn mit vielen hübschen Dingen zu verzieren, was er dann auch tat.

Aber je mehr er den Wagen des Verlangens schmückte, desto schwerer wurde er für das Bedürfnis, so dass das arme Tier schließlich von den Kurven und steilen Anhöhen ganz erschöpft war und den Wagen des Verlangens nicht mehr ziehen konnte.

Auf den sandigen Wegen versanken die Räder der Lust und des Leidens in den Boden.

Eines Tages verzweifelte der Reisende, da der Weg sehr lang war und sein Ziel noch sehr weit entfernt lag. In dieser Nacht beschloss er, über das Problem nachzusinnen.

Und als er das tat,

hörte er seinen alten Freund wiehern,

und er verstand diese Botschaft.

Am nächsten Morgen entfernte er allen Schmuck vom Wagen, erleichterte ihn von seinem Gewicht und versetzte in der Früh sein Tier in Trab und begann, sich so seinem Ziel zu nähern.

Doch er hatte er bereits Zeit verloren, die nicht mehr aufzuholen war.

In der folgenden Nacht sann er wiederum nach und verstand jetzt durch einen erneuten Hinweis seines Freundes, dass er eine doppelt so schwierige Aufgabe vollbringen musste, da sie nämlich Verzicht bedeutete.

Im Morgengrauen opferte er den Wagen des Verlangens.

Indem er das tat, verlor er zwar das Rad der Lust, aber mit ihm verlor er auch das Rad des Leidens.

Er stieg auf den Rücken des Tieres Bedürfnis

und begann, durch die grünen Wiesen zu galoppieren,

bis er sein Ziel erreichte.

Beachte, wie dich das Verlangen in die Enge treiben kann. Aber es gibt Verlangen von unterschiedlicher Qualität.

Es gibt niedrigere Verlangen und es gibt höhere Verlangen. Erhebe das Verlangen, überwinde das Verlangen, reinige das Verlangen!

Damit wirst du zwar gewiss das Rad der Lust opfern müssen, doch gleichzeitig auch das Rad des Leidens.

Die Gewalt im Menschen, die durch das Verlangen entsteht, bleibt nicht nur als Krankheit in seinem Bewusstsein zurück, sondern sie hat Auswirkungen auf die Welt der anderen – sie wird gegen den Rest der Menschen ausgeübt

Glaube nicht, dass ich mich, wenn ich von Gewalt spreche, nur auf die bewaffnete Auseinandersetzung im Krieg beziehe, in welcher einige Menschen andere in Stücke reißen.

Das ist eine Form der körperlichen Gewalt.

Es gibt eine wirtschaftliche Gewalt: Die wirtschaftliche Gewalt ist die, die dich dazu treibt, den anderen auszubeuten.

Die wirtschaftliche Gewalt kommt zustande, wenn du den anderen bestiehlst, wenn du nicht mehr der Bruder des anderen bist, sondern zum Raubvogel für deinen Bruder wirst.

Es gibt auch eine rassistische Gewalt:

Glaubst du, dass du keine Gewalt ausübst, wenn du den anderen verfolgst, nur weil er einer anderen Ethnie angehört?

Glaubst du, dass du keine Gewalt ausübst, wenn du ihn verleumdest, weil er einer anderen Ethnie angehört?

Es gibt eine religiöse Gewalt:

Glaubst du, dass du keine Gewalt ausübst, wenn du jemandem keine Arbeit gibst oder ihm die Türe verschließt oder aber ihm kündigst, weil er nicht deiner Religion angehört?

Glaubst du, es ist keine Gewalt, wenn du jemanden, der deine Konfession nicht teilt, durch Verleumdung einschließt; ihn in seiner Familie, bei den Menschen, die er liebt, einschließt, nur weil er mit deiner Religion nicht übereinstimmt?

Es gibt weitere Formen von Gewalt, die in der Philistermoral begründet sind.

Du möchtest anderen deine Lebensform aufzwingen, du glaubst, anderen deine Berufung aufzwingen zu müssen...

Aber wer hat dir gesagt, dass du ein Vorbild bist, dem man folgen müsse?

Wer hat dir gesagt, dass du anderen eine Lebensform aufzwingen kannst, nur weil sie dir gefällt?

Wo ist das Modell, wo ist das Vorbild, nach dem du es aufzwingst...?

Auch das ist eine Form von Gewalt.

Die Gewalt in dir, in den anderen und in der Welt um dich herum kannst du nur durch den inneren Glauben und die innere Meditation beenden.

Es gibt keine falschen Türen, um die Gewalt zu beenden.

Diese Welt ist im Begriff auseinander zu bersten, und es gibt keinen Weg, um der Gewalt ein Ende zu bereiten!

Suche keine falschen Türen! Es gibt keine Politik, die diesen wahnsinnigen Drang nach Gewalt verhindern könnte.

Es gibt keine Partei oder Bewegung auf diesem Planeten, welche die Gewalt aufzuhalten in der Lage wäre.

Es gibt keine falschen Auswege für die Gewalt in der Welt...

Man sagt mir, junge Menschen auf verschiedenen Erdteilen seien auf der Suche nach falschen Auswegen, um sich von Gewalt und innerem Leiden zu befreien.

Sie suchen die Droge als Lösung. Suche keine falschen Türen, um die Gewalt zu beenden.

Mein Bruder, beachte einfache Gebote, die so einfach sind wie diese Steine und dieser Schnee und diese Sonne, die uns segnet.

Trage Frieden in dir und trage ihn zu den anderen.

Mein Bruder, dort in der Geschichte ist der Mensch und zeigt das Gesicht des Leidens, schau dieses Gesicht des Leidens an...

Aber denke daran, dass es nötig ist, voranzuschreiten,

dass es nötig ist, lachen zu lernen,

und dass es nötig ist,lieben zu lernen.

Dir, mein Bruder, werfe ich diese Hoffnung entgegen – diese Hoffnung auf Freude, diese Hoffnung auf Liebe, damit du dein Herz und deinen Geist erhebst und damit du nicht versäumst, deinen Körper zu erheben.

SILO.NET

Das ist der erste öffentliche Auftritt Silos. In einer mehr oder weniger poetischen Verpackung wird erklärt, dass das lebenswichtigste Wissen (»die wirkliche Weisheit«) nicht aus der Kenntnis von Büchern, universellen Gesetzen usw. besteht, sondern dass es eine Frage der persönlichen, intimen Erfahrung ist. Das für das Leben wichtigste Wissen hat mit dem Verständnis des Leidens und mit seiner Überwindung zu tun.

Anschließend wird eine sehr einfache These aufgestellt, die aus mehreren Teilen besteht:

1. Es wird damit begonnen, zwischen dem körperlichen Schmerz sowie seinen Nebenerscheinungen einerseits und dem geistigen Leiden andererseits zu unterscheiden – wobei behauptet wird, dass die ersteren dank dem Fortschritt der Wissenschaft und der Gerechtigkeit zurückgehen können, während letzteres nicht dadurch überwunden werden kann.

2. Man leidet über drei Wege: dem der Wahrnehmung, dem der Erinnerung und dem der Vorstellung.

3. Das Leiden weist auf einen Zustand der Gewalt hin.

4. Die Wurzel der Gewalt ist das Verlangen.

5. Das Verlangen hat verschiedene Abstufungen und Formen. Indem man darauf achtet (»mittels der inneren Meditation«), kann man fortschreiten. Weiter:

6. Das Verlangen (»je niedriger das Verlangen ist«) treibt die Gewalt an, die nicht im Inneren der Personen bleibt, sondern die Beziehungsumgebung vergiftet.

7. Es werden verschiedene Formen von Gewalt beobachtet und nicht nur die primärste, nämlich die körperliche Gewalt.

8. Es ist notwendig, auf ein einfaches Verhalten zu zählen, das dem Leben eine Orientierung gibt (»erfülle einfache Gebote«): zu lernen, Frieden, Freude und vor allem die Hoffnung in sich zu tragen. Schlussfolgerung: Die Wissenschaft und die Gerechtigkeit sind notwendig, um den Schmerz im Menschengeschlecht zu besiegen. Die Überwindung primitiven Verlangens ist unerlässlich, um das geistige Leiden zu besiegen.

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Rafael #Mediolleno

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