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Bratislava September 2019 Aufstand der Zivilgesellschaft

21. September 2019

Auf der Rückfahrt von einer Reise nach Bratislava ordne ich meine Gedanken. Es gab viele Informationen und viele Begegnungen. Meine Vorstellung von der Slowakei hat sich geändert.

Die große gesellschaftliche Wende und Neuausrichtung der Visegrad-Staaten um 1990 liegt heute 30 Jahre zurück. Vieles ist seitdem geschehen. In Budapest und Prag konnte ich in den letzten Jahren schon manches davon sehen und dazu etwas schreiben.

Etwas, das mir in der Beschäftigung mit den Visegrad-Ländern beständig begegnet, sind die Gefühle von Enttäuschung und Ernüchterung. Am Anfang, um 1990, verband sich mit „Europa und der Europäischen Union“ eine große Hoffnung, ein immenses Vor-Vertrauen und eine freudige Erwartung. Doch dann haben sich die Dinge viel zäher entwickelt als erwartet und heute fühlen sich viele Menschen abgehängt und betrogen.

Wovon abgehängt? Von wem betrogen? Und: wer ist davon betroffen, gibt es auch Gewinnler? Die Slowakei ist momentan in eine Phase der Selbstreflektion getreten, aufgerüttelt durch den Mord an dem Journalisten Jan Kuciak und seiner Freundin Martina Kusnirova vor 18 Monaten (Ende Februar 2018).

Allgegenwärtige Korruption und das allgemeine Versagen der gesellschaftlichen Institutionen stehen im Fokus der Zivilgesellschaft. Die Kräfte, die sich in den letzten 30 Jahren etablieren konnten, haben ihre Vertrauensbasis tiefgreifend verspielt und das betrifft auch die populistischen Parteien.

Es ist eine bürgerliche Skepsis entstanden, die sich nicht entlang traditioneller politisch-ideologischer Schützengräben auswirkt. Die neue Skepsis ist allgemein, parteiübergreifend und bezieht sich auch auf die Versuche der etablierten politischen Akteure, "Schuld" jeweils irgendwo anders (oder bei der EU) zu platzieren.

Ich empfinde einen neuen Aufbruch. Nüchtern, um viele Probleme wissend - und ohne die Erwartung, dass eine Kraft von außen helfen und irgendwie alles regeln wird. Man kennt die Strukturen und Möglichkeiten der Europäischen Union und will sie nutzen - aber: „Wir müssen das selber tun, niemand kann uns das in den Schoß legen!“. Wenn die demokratischen und ökonomischen Angebote der EU nicht ankommen bei den normalen Leuten in der Slowakei, dann fragt derzeit die slowakische Zivilgesellschaft: "sind es unsere eigenen politischen Eliten, die das mit kriminellen Methoden verhindern, um sich selbst zu bereichern?"

Eine Gesprächspartnerin sagt, ihre kurzfristige Hoffnung ist, dass sich das politische System mit der nächsten Wahl ändert. Und ihre Langfristige? Sie zögert, sucht nach Worten und sagt: „dass, wenn die Dinge nicht jetzt, sich dann aber bald ändern werden.“ Ich glaube zu verstehen: sie sieht die Slowakei vor einer fundamentalen Entscheidung, über die hinaus sie nicht in die Zukunft sehen kann oder will.

Ich sehe in dieser Haltung eine Reife, die mir für Europa Hoffnung macht.

Im französischen Marseille hatte ich bemerkt, wie ernüchtert man meint, Europa nicht mehr lieben, sondern nun noch ausnutzen zu dürfen. So, wie es alle tun. Eine trauernde Resignation lag darin. Die slowakische Nüchternheit ist eine ganz andere. Sie will sich nicht an den Schlupflöchern und kuriosen Honigtöpfen der EU bedienen. Sondern diese Nüchternheit will die wirklichen europäischen Erungenschaften zur Anwendung bringen, um selbst gesund zu werden. Gleichzeitig ist man stolz auf das eigene Land, singt die Nationalhymne mit Inbrunst, schwenkt die Landesfahne. Es ist wie ein europäischer Patriotismus innerhalb der slowakischen Nation.

Ein ergreifender und mitreißender Prozess in einer Region der Europäischen Union, den ich von nun an miterleben kann.

Created By
Stefan Budian
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