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Die Insel der Vespa Zanzibar

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“Wo die ganzen Vespas herkommen, fragst du?” Für einen Moment hält Chaggy in der Drehbewegung mit dem Schraubenschlüssel inne und schaut mich mit hochgezogener Augenbraue über den Rand seiner neon-orangenen Sonnenbrille an. Dann fängt er an zu lachen. Als hätte er noch nie im Leben eine seltsamere Frage gehört. “Klar, ich erzähl dir das”, antwortet er, rückt die Sonnenbrille mit seinen öligen Fingern zurecht und fährt mit der Reparatur meiner seit nicht Mal zwei Stunden geliehenen Vespa fort.

“Vor 50 Jahren ist ein Containerschiff hier am Riff der Lagune gestrandet." Er schüttelt den Finger vage Richtung Meer. “Die hatten damals noch keine moderne Technik, GPS und sowas. Der Kapitän ist auf Sicht gefahren. Sehr gefährlich. Die Felsen im Wasser siehst du erst, wenn es zu spät ist.”

Während er spricht, nimmt er gewandt die Vespa auseinander und trennt fein säuberlich Schrauben und Muttern auf einem alten Fussballtrikot vor sich auf. Jede Bewegung, jeder Griff sitzt. “Mein Großvater”, fährt er fort, “war Fischermann. Wie mein Vater. Er war gerade am Riff fischen, als das Unglück passierte. Zum Glück. Das hat denen das Leben gerettet.” Er hält kurz inne, dann fährt er fort. ”Zurück an Land hatte er nicht nur die Seemänner gerettet, sondern auch dies, das, was er eben gefunden hat. Rate mal was die mitgebracht haben” und zeigt auf meine nun komplett zerlegte Vespa.

Kurz lacht er auf, stockt im selben Moment wieder und zeigt auf etwas.“Der Dichtungsring. Typisch. Das ist das Einzige, was an den Dingern kaputt geht. Wegen dem Staub und Sand hier. Da kann man nichts machen.” Vorsichtig nimmt er den kaputten Ring runter und legt ihn behutsam zur Seite. Als könnte man ihn noch für was anderes nutzen. Man weiß ja nie. Dann steht er auf, holt eine Plastiktüte mit unzähligen Dichtungsringen hinter dem Tresen hervor. Auf der Tüte sind chinesische Schriftzeichen. Er registriert meinen Blick.“Keine Angst, die sind billig und halten ewig. Sei froh, dass du keine Honda hast, oder irgendwas Teures aus Europa. Dafür gibt's keine Ersatzteile hier."

“Auf jeden Fall”, fährt er fort, “war das damals so ein rießen Ding, dass eine Frau ihr Kind nach dem Kapitän des Schiffes benannt hat: Pirato." Chaggy legt den neuen Dichtungsring auf und greift nach dem Schraubenzieher. Wieder das selbe Spiel: Mit perfekten Bewegungen setzt er die für mich nach Raketenwissenschaften aussehende Maschine in Sekunden zusammen. Dann schaut er auf, direkt auf meine hochgezogene linke Augenbraue. “Im Ernst, wenn du mir nicht glaubst, fahr nach Bwejuu und frag nach Pirato. Alle kennen ihn.” Dann startet er die Vespa. Sie springt sofort an.

“Alt ist gut”, sagt er dazu, “das kann man noch reparieren.” Der gesamte Aufwand kostet fünf Euro. Ich frage Chaggy, warum er nicht, wie sein Vater, Fischermann geworden ist. Bevor er antwortet, streicht er seine öligen Hände am Fussballtrikot ab. “Als Fischermann verdienst du wenig Geld. Und ich liebe Vespas. Also repariere ich Vespas. Damit verdiene ich Geld, viel Geld”, sagt er mit Nachdruck. “Dann kann ich eines Tages runter von dieser Insel und mit einem alten Bus durch Afrika fahren."

Vespas am Straßenrand von Stone Town © Sebastian Weida

Die Vespa habe ich von Charles aus Stone Town. Er sprach mich an, als ich gerade daran scheiterte, ein halbwegs akzeptables Bild einer an Containerschiffen vorbeisegelnden Dau mit weit aufgeblähtem Trapezsegel zu machen. Auf seiner laminierten Businesskarte bot er mir alle möglichen Services an: Taxiservice, Abholservice, Flughafenservice, Restaurantservice, Wäschereiservice, Touristenservice. Aber kein Vespaverleihservice. Organisiert hat er mir trotzdem eine. Von seinem Bruder.

“Warum willst du unbedingt eine Vespa”?, fragte er mich. “Die sind für alte Männer”, fügte er lachend hinzu und schüttelte den Kopf. “Ich kann dir auch eine Honda XLR organisieren. Gut fürs Gelände. Und satter Sound."

Aber ich wollte eine Vespa. Dabei war ich nie ein großer Fan. Ich besitze keine und hatte nie vorgehabt eine zu besitzen. Trotzdem wollte ich jetzt Vespa fahren. Nicht in Rom am Trevi Brunnen. Hier in Sansibar.

Vielleicht lag es an einer Geschichte, die mir ein tansanischer Freund einst erzählte. Italienisch sprechende Männer in schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen haben die Vespa nach Sansibar gebracht. In den Achtzigerjahren. Aus Sizilien, “um den Tourist*innen eine möglichst authentische Italienatmosphäre zu bieten." Erdbeereisbecher, abgesperrte Resorts in der ersten Reihe, ferrarirote Vespa. La dolce vita an 365 Tagen im Jahr. In 8000 km Entfernung von daheim ein bisschen daheim fühlen.

Alleine auf meiner Fahrt vom Flughafen zum Hotel zählte ich weit über hundert (vs. 15 in meiner Straße im Berliner Kiez). In allen Farben, Formen und Gebrauchszuständen. In weiß, schwarz und grau, in so ziemlich jedem Pastellton, rostbraun, aber auch neon grün und -gelb. Als Transportmittel für frischen Fisch, lebende Hühner in Käfigen, lebende Hühner ohne Käfige, Baumaterialien, Matratzen, Fünfköpfige Familien, ein Kühlschrank. Viele zieren Sticker globaler Marken, gerne auch mit leichten Änderungen: playboy, apple(z), windows 98, gucci, mercedes benz, zwei Herzen durchbohrt von Amors Pfeil, ein Weißkopfadler mit USA Flagge, ein Hanfblatt mit Bob Marleys Konterfei.

Was ich nicht sah: Andere Tourist*innen auf Vespas. Ich frage mich, ob Chaggys Freunde deswegen so amüsiert waren, als ich mit der Vespa in die Werkstatt gerollt kam. Ein Tourist mit einer kaputten Vespa.

Aufkleber auf Vespas © Sebastian Weida

Simba, Gründer des Vespa Club Sansibar, dem ersten Vespa-Club Afrikas versteht das Geschäft mit Tourist*innen und Vespas. Er sieht aus wie sein Spitzname: weise Mähne und faltiges Gesicht. Eigentlich ist er Schweizer und eröffnet bald ein Hotel für internationale Vespafans und versucht ein seriöses Bild in die Geschichte zu bringen.

“Die Vespa ist perfekt für diese Insel”, erzählte er mit rauchiger Stimme bei einem Besuch vor meiner kleinen Spritztour, “denn Sansibar ist wie Sizilien in den fünfziger Jahren - Alles ist möglich, nichts verboten." Seine Augen leuchteten schelmisch und er zwinkerte immer wieder während er Kette rauchte. Wir saßen auf Plastikstühlen an einem Plastiktisch. In der Mitte ein voller Aschenbecher. Seine Frau brachte uns zuckersüßen Eistee. Im Hintergrund brummte ein Generator.

“Hier kann ich auch Mal ohne Helm auf dem Strand fahren”, erklärte er weiter. Seine Kund*innen aus aller Welt, aber insbesondere Italiener*innen suchten das “Fünfzigerjahre Freiheitsgefühl”, als die Welt noch in Ordnung war. Vespa fahren ist für ihn “Gemütlichkeit, schönes Wetter, Leute treffen, und nie schneller als 50 kmh fahren - Nostalgie pur."

Simba war früher im Marketing tätig. In seinem Verein sind außer ihm nur Männer aus Italien, alles Lodgebesitzer aus “Rimini”, so nennt er einen Strandabschnitt im Nordosten der Insel, wo besonders viele Resorts in italienischem Besitz stehen sollen.

“Aber eins ist dir klar oder?”, fragte er mich, ”Die Vespas hier sind gar keine Vespas. Das sind alles Nachbauten aus Indien." Er genoss den Moment, lötete sich eine neue Zigarette an der Alten an. Dann räusperte er sich. “Ja, LML heißt die Firma. Ist inzwischen auch pleite, glaube ich. Die original Vespa von Piaggio ist ja auch eine andere Preisklasse. Eine Vespa von LML kriegst du hier auf Sansibar für unter 600 Euro." Er sagte das, als wäre es ein Schnäppchen. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.

“Aber Mal im Ernst. Die Leute hier wissen gar nicht, auf was für einem Schatz sie sitzen. In Europa werden absurde Preise gezahlt, hier rotten sie einfach dahin." Nachdenklich fügte er hinzu, “Früher gabs auch mal so viele Vespa in Italien. Hier stirbt die auch langsam aus. Aber es gibt immer irgendwelche Freaks wie mich, die solche Hobbys weitermachen."

Straßenmomente auf Sansibar © Sebastian Weida

Ich bin jetzt auf dem Weg nach Bwejuu, um diesen Pirato aufzusuchen. Während ich mit 45 über die Landstraße fahre (meine persönliche Wohlfühlgeschwindigkeit) komm ich an Maisfeldern, Gewürzplantagen, Kuhherden und Plattenbauten mit Ostberlincharme vorbei. Ein Reisebus überholt mich haarscharf mit mindestens 100 km/h. Ich muss scharf bremsen. Auf seiner Rückseite lese ich gerade noch in großen Buchstaben: Jesus holds my wheel! In einem Dorf am Wegrand stehen etwa 200 Menschen in einer Reihe hintereinander und hacken einen langgezogenen Graben. Nebenan liegen gewaltige Rohre aus Plastik und blaue Baumaschinen mit chinesischen Schriftzeichen. Polizist*innen in weißen Kutten stehen an Dorfein- und ausgängen. Aber sie interessieren sich nur für die vielen Autos, Kleintransporter und LKWs. Frauen laufen am Straßenrand mit großen Bastkörben auf dem Kopf. Ich sehe Esel und Ochsen Kutschen, aber keine Pferde. Die Geschichte mit Pirato kommt mir in den Kopf. So viele Fragen. Doch ein knarzendes Stottern durchbricht meine Gedanken. Dann geht der Motor aus.

Es gibt wohl keinen größeren Bonding-Moment mit anderen Vespafans, als wenn plötzlich die Vespa ausgeht und man krampfhaft versucht sie wieder anzutreten. Ich stehe im Nirgendwo an einer Ampel ohne Kreuzung, als meine Vespa nicht mehr angeht. Meine kurze fachmännische Analyse (ich hab Maschinenbau studiert) ergibt: Der Tank ist leer. Einer, der mir sofort zu Hilfe eilt, ist ein Mann in schwarzem Anzug und roter Fliege. In seiner rechten Hand trägt er einen roten Helm. Weiter hinten sehe ich eine rot funkelnde Vespa. Ich muss sofort an die Geschichte meines tansanischen Freundes denken über Männer in dunklen Anzügen und ferrariroten Vespas.

“Kein Sprit?” fragt er mich. “Warte, lass mich Mal." Er legt die Vespa seitlich auf den Boden und rüttelt sie heftig. Dann stellt er sie auf und tritt den Anlasser voll durch. Sie springt sofort an. “Damit kommst du noch ein paar hundert Meter. Da vorne an der Ecke verkaufen sie Sprit in Plastikflaschen. Achte darauf, dass sie das Öl nicht vergessen." Er lächelt mich freundlich an. Ich danke ihm und fahre zum Verkaufsstand. Kurze Zeit später kommt er dazu “um dem Verkäufer über die Schulter zu schauen." Für einen Euro schüttet er 1.5 Liter einer nach Fanta Tropical aussehenden Flüssigkeit aus einer Plastikflasche in den Tank. Dann gießt er einen Kaffeebecher voll Öl hinterher. Mindestens ein Drittel geht daneben auf den Boden.

Der Mann in roter Fliege und ich gehen Mittagessen. Plastiktisch, Plastikstühle, eisgekühlte Cola und sowas wie frittierte Eierpommes. Er trägt einen Anzug bei immerhin 30 Grad und heißt Kitiku, arbeitet als Manager bei der Zentralverwaltung von Sansibar und ist gerade kurz davor sich einen langersehnten Traum zu erfüllen: ein großes Haus bauen für alle seine Freund*innen und seine Familie.

“Die Vespa”, so erklärt er, “gehört zu Sansibar. Sie steht für die vielen Einflüsse: italienisch, indisch, tansanisch, international." Weiter erzählt er, “Richtige Männer fahren Vespa. Alles andere ist unbequem, teuer und hat keine Klasse."

Ich erinnere mich spontan an Charles, der Vespaverleiher mit den vielen Services, und was er über Vespas sagte und grinse. “Die Zentralverwaltung nutzt Vespas für Einkauf und Transport. Weil LML nicht mehr fertigt, kaufe ich neuerdings Motorräder von Honda, was die Anschaffungs- und Betriebskosten nach oben treibt." Er redet sich ein bisschen in Rage. “Das Problem an diesen Hondas ist außerdem, dass es einfach keine Ersatzteile gibt. Falls Mal was passiert." Das erinnert mich an meine Vespa-Reparatur.

Ich frage ihn ob er Chaggy kennt. Chaggy kennt sich aus mit Ersatzteilen. Er verneint. Ich frage ihn ob er Pirato kennt. Er kennt Pirato nicht. Aber ich bin ja auch noch nicht in Bwejuu.

Straßenmomente auf Sansibar  © Sebastian Weida

Ich bin zurück auf der Straße. Zwei junge Männer rasen an mir auf ihren Vespas vorbei. Einer der beiden fährt dabei auf dem Hinterrad, lacht lautstark und streckt dabei seine Zunge heraus. Der Andere sitzt seltsam verkrampft nur mit einer Pobacke auf dem Sitz und lässt den Motor aufheulen. Beide sind unglaublich schnell. Beide sehen unglaublich wild aus. Ich versuche sie einzuholen. Doch ab 60 sitze ich nicht mehr auf einer Vespa, sondern auf einem Bohrhammer. Simbas Worte kommen mir in den Kopf. “Vespa fahren ist ja eher gondeln. Deswegen passieren auch so wenige Unfälle mit der Vespa auf Sansibar." Also gebe ich die Verfolgungsjagd auf.

Die Hostelbesitzerin Christine in Bwejuu erzählt mir, dass die beiden wahrscheinlich zur Tako Modja Gang gehören (Übersetzt: eine Seite des Pos). Die ausschließlich männlichen Mitglieder dieser Gang organisieren Rennen, Tuning-Events und sonstige Treffen - ausschließlich für Vespafans. “Sie sind so bekannt, dass sogar der Präsident sich persönlich eingeschaltet hat und ihnen drohte, dass sie, falls sie einen Unfall bauten, im Krankenhaus nicht behandelt würden” erzählt ihr Mann, der mit einem schluchzenden Baby im Arm im Zimmer auf und ab läuft. Wir trinken tansanischen Instantkaffee - Africafe - mit frischer Milch und einem Hauch Kardamom und Nelken.

Bwejuu ist im Osten der Insel direkt an der blauen Lagune. Allerdings sind hier wenige Tourist*innen. Viele Häuser sehen aus als stehen sie schon seit Ewigkeiten hier. Sie sind aus Muschelkalk gebaut. Dadurch erstrahlt alles in Weiß. Überall stehen gewaltige Kokosnusspalmen die im Wind hin- und herpendeln. Das Leben fühlt sich langsam an.

Ich frage Christine was ihr als Erstes in den Kopf kommt zur Vespa. "Wenn ich an eine Vespa denke, sehe ich einen Mann als Fahrer und die Frau hinten drauf. Seitlich, wie auf einem Pony. Und mindestens 100kg Ware." Ich frage sie, ob sie selber Vespa fährt. “Nein, ich habe ein Auto."

Langsam verzieht sich die Hitze des Tages. Ich bin erschöpft wie selten zuvor, dabei bin ich keine 20 Kilometer gefahren. Ich frage sie, ob sie eine Erklärung für eine Beobachtung hat: Warum so viele Frauen laufen.

Bevor sie antwortet, steht sie auf und holt eine eisgekühlte Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, stellt 3 Gläser auf den Tisch und schenkt uns ein. Dann antwortet sie langsam und bedacht. "Mobilität ist erstmal eine Geldfrage. Frauen, die wenig bis kein Einkommen haben, laufen, um 20 cent zu sparen. Andere Frauen haben eine Vespa und verleihen sie. Eine Angestellte zum Beispiel wollte mehr Geld, weil die Buspreise gestiegen sind. Sie fährt aber gar nicht mit dem Bus, sondern läuft jeden Tag"

Ich erzähle ihr, dass ich bisher keine einzige Frau auf einer Vespa selber fahrend gesehen habe und frage sie, ob sie eine Erklärung dafür hat. “Dafür gibt es viele Gründe. Aber gar keine Frauen? Ha, nicht in Bwejuu! Du hast Wanu noch nicht kennengelernt." Sie lachen. Ich lache. Was ist nur dran an diesem Bwejuu, denke ich mir.

Wanu auf ihrer Vespa am Strand © Sebastian Weida

Ich treffe sie mit ihren besten Freundinnen am Strand. Wanu fährt eine schwarze Vespa, trägt einen orangenen Schleier zu einem hellblauen Kleid und Flip-Flops. Auf der Ladefläche der Vespa liegen zwei riesige Fische. Sie sehen frisch aus. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich laut. Zur Begrüßung wird mit der Faust abgecheckt.

Wanu ist Ende 30, hat 4 Kinder. Ihr Mann ist Bauarbeiter, wenn es Arbeit gibt. “Manchmal ist das Leben gut. Manchmal ist es schlecht. Aber es hat immer funktioniert, auch wenn es manchmal nicht genug Geld für Strom oder die Schule der Kinder gibt”, erzählt sie. Ihr Freundinnen nicken bei allem, was sie erzählt. “Vespa fahren ist kompliziert und unsicher. Aber so ist das Leben. Ich bin Geschäftsfrau und kenne mich damit aus."

Ich frage sie, an was sie denkt, wenn sie Vespa fährt. “Wenn ich Vespa fahre, denke ich erstmal an das Geld, das ich jetzt verdiene. An das gute Essen, das ich meiner Familie damit kochen kann. Oder vielleicht mal ein eigenes Smartphone. Außerdem liebe ich einfach den Klang der Vespa, wenn ich beschleunige."

Ich frage, warum sie glaubt, dass so viele Frauen nicht Vespa fahren. Die Stimmung wird ernsthaft. “Die Frauen in Bwejuu glauben, sie seien zu schwach für Alles. Zu schwach zum Arbeiten, zu schwach zum Vespafahren. Aber das stimmt nicht. Ich bin das lebendige Beispiel." Ihre Freundinnen nicken.

Dann reißt eine Freundin einen Witz, den ich nicht verstehe. Alle lachen laut und klopfen sich den Bauch dabei. Die Stimmung löst sich. Ich frage sie, ob sie schon Mal Probleme mit der Polizei hatte. “Klar, ich hab ja keinen Führerschein."

Als ich am Ende des Tages die Vespa im Hostel abstelle, überkommen mich nostalgische Gefühle. Eine Katze springt auf den Sitz, macht es sich bequem und schnurrt. Ich denke an all die Menschen und Eindrücke, die ich seit Beginn dieser kleinen Reise gewonnen habe. Chaggy nennt die Vespa auch “Haya ya Paka." Seele der Katze. Unsterblich. Unkaputtbar. Die Geschichte mit Pirato kommt mir in den Kopf. Wenn Chaggy Recht hat, kennt ihn hier jeder. Also frage ich den Nächsten auf der Straße. Er kennt ihn tatsächlich und bringt mich zu ihm. Auf dem Weg laufen wir durchs Dorf, vorbei an kleinen Essensständen, wo Dorfbewohner*innen auf Plastikstühlen um Plastiktische sitzen und mit den Fingern an gegrilltem Hühnchen oder Fisch pulen, vorbei an jubelnden Fans vor einem kleinen Fernseher - Manchester United hat wohl gerade ein Tor geschossen, an Schulkindern in blütenweißer Uniform und grüner Scherpe und Socken. Es ist die goldene Stunde, die letzte Stunde des Tages vor dem Sonnenuntergang. Die Welt erstrahlt in einem weichen goldenen Farbton.

Pirato wohnt in einem Haus am Dorfrand. Auf dem Weg dorthin folgen uns mehrere Kinder im Abstand von etwa zehn Metern. Eine Frau öffnet uns die Tür und lässt uns in den Hof. Auf einem offenen Feuer steht ein Topf mit einer dampfenden braunen Flüssigkeit. Es riecht nach gekochten Bohnen und Rauch. Drei Hühner streiten sich um frische Karottenschalen. Ich werde vorgestellt. Grüße werden ausgetauscht. Die Frau heißt Brenda und ist die Schwester von Pirato. “Herzlich willkommen” sagt sie immer wieder. Dann kommen die Kinder von vorhin dazu. Es sind die Kinder ihrer Tochter. Ihre Scheu von vorhin haben sie abgelegt. Jetzt turnen sie um mich herum. “Hast du Geschenke für die Kinder dabei?” fragt mich Brenda. Ich schüttel verlegen den Kopf. “Besser so”, antwortet sie und schaut ein bisschen belustigt auf die Kinder, die jetzt den Hühnern hinterherrennen.

Dann ziehen wir Schuhe und Socken aus und gehen durch einen Perlenvorhang hindurch ins Haus. Pirato sitzt auf einer lila-weißen Couch und schaut durch ein kleines rundes Fenster Richtung Meer in die Ferne. Es ist dunkel in der Wohnung. Und unerwartet kühl. Chaggy erzählte mir, dass das Boot in den Achtzigerjahren gestrandet sei. Pirato müsste also um die fünfzig Jahre alt sein. Tatsächlich sieht er älter aus. Das Hemd, das er trägt, ist so blütenweiß wie die Schuluniform der Kinder. Brenda stellt mich Pirato vor. Keine Antwort. Ich fühle mich unwohl. Brenda bemerkt das. “Leider ist er relativ schwerhörig und alt geworden”, erzählt sie mir, “aber du hättest ihn früher sehen müssen." Sie lächelt. Dann geht sie in die Küche, um Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Pirato registriert das alles nicht. Ich stelle mich noch Mal vor und erzähle ihm, dass ich Chaggy getroffen habe und er viele Grüße schickt. Dann frage ich ihn, ob seine Mutter ihn wirklich Pirato nannte, weil der Kapitän des Schiffs Pirato hieß und schäme mich sofort, so eine dumme Frage gestellt zu haben. Keine Reaktion. Brenda kommt zurück. Cola ist alle. Aber ich könnte ein Glas Wasser haben. Ich lehne dankend ab.

Ich stehe schon in der Tür als Pirato mich plötzlich zu sich winkt und auf eine weiße Wanduhr aus Plastik zeigt. Sie sieht alt aber gepflegt aus, hängt nur ein bisschen schräg. Ihre Zeiger sind stehengeblieben auf 14.48 Uhr. Ich frage ihn, ob die Uhr kaputt ist oder warum sie aus ist. Seine Schwester antwortet. “Die Uhr? Die hängt hier schon seit immer. Die ist von unserer Mutter."

Ich frage, was so besonders an der Uhr ist. Für einen Moment überlegt sie. Dann antwortet sie. “Die Uhr war, glaube ich, ein Geschenk an unsere Mutter. Oder jemand hat sie mitgebracht. So genau weiß ich das nicht mehr."

Dann frage ich sie, warum die Uhr stehengeblieben ist. Jetzt muss sie kurz lachen. “Ach, die steht schon immer da und funktioniert hat sie noch nie. Zumindest nicht, seit ich denken kann."

Wir verabschieden uns freundlich. Als ich mich noch mal umdrehe, entdecke ich die Kinder. Sie haben auf mich im Schatten eines Mangobaums gewartet. Ach egal, denke ich mir, gehe auf die andere Straßenseite und kaufe in einem kleinen Shop ein paar Schokoriegel und teile sie gleichmäßig unter den Kindern auf. Zusammen stehen wir an der Straße und essen schweigend geschmolzenen Schokoriegel. Eine alte Vespa tuckert vorbei und verschwindet in der Abendsonne. Vielleicht ist das ja eine von dem Schiff, das hier Mal strandete, aus Indien, oder vielleicht doch aus Italien. Dann ziehe ich weiter.

Created By
Sebastian Weida
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