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Zweitausend-Kleinundzwanzig Klein, aber fein.

Und wieder beginnen sich die Briefkästen und Eingangskörbe mit Episteln von Freunden und Verwandten zu füllen, von denen man sonst das ganze Jahr nichts hört. Weil wir dieses Jahr bereits unsere neunundzwanzigste (!) Weihnachtsepistel verschicken und deshalb einerseits eine Art Urheber dieses Trends sind, andererseits diese neunundzwanzigjährige Linie nur ungern vor der dreißigsten Jubiläumsausgabe 2022 unterbrechen wollen, werden wir Euch auch zu diesem Advent in feierlicher Form die Mailbox füllen und alle Informationen präsentieren, über die man sonst so redet, wenn man sich zwischen Gemüseabteilung und Nudelregal trifft und einen kleinen Plausch über die privaten Dinge des Lebens hält. Weil das bei uns aus geographischen Gründen aber eher selten passiert, plaudern wir halt schriftlich.

Also, hol dir einen Kaffee oder setz nochmal Teewasser auf, ich warte derweil. (Das Bild hier ist übrigens keine Inselgruppe, das ist mein freundliches Wartelächeln, wenn ich grad keine Brille aufhabe.)

* * *

Zu Beginn des Jahres schienen die allgemeinen Hoffnungen ja RIESIG gewesen zu sein! 2021 sollte "endlich" mal wieder ein "normales" Jahr werden. Ich persönlich habe dieses Hau-ruck-zuck-und-aus-und-vorbei-Denken nie so ganz verstanden, weil sich jede Pandemie eigentlich immer über Jahre erstreckt. Deshalb hatten Karen und ich auch keine großen Erwartungen auf große Erlebnisse dieses Jahr. Die wirklich großen Abenteuer, dachten wir uns, warten 2021 wahrscheinlich im ganz normalen, kleinen Alltag. Und siehe da, so kam es auch.

Auf'm Dach

Stell dir zum Beispiel vor, du schaust dir einfach mal das Dach an, unter dem du jeden Abend wie selbstverständlich einschläfst, das dir über Jahre treuen Schutz vor Wind und Wetter bietet. Und während du es verklärt betrachtest, runzelst du die Stirn, stellst plötzlich fest:

Moment mal, das Ding fängt ja an, zu verrotten!

Kleine, faule Stellen im Holz, wo sie nicht hingehören, haben unglaubliches Abenteuerpotential! Sie können enorme Gefühle hervorrufen. Gott schien das aber auch schon gesehen zu haben, Gott sieht ja alles, und ließ bald darauf einen Engel in Form eines französischen Handwerkers an unsere Tür klopfen. Bonjour! Er meinte, unser Dach brauche ja wohl mal eine Renovierung! Und machte uns kurzerhand ein durchaus erträgliches Angebot. Gottesgläubig, wie wir sind, gaben wir dem Engel natürlich den Zuschlag.

Doch dann erwarteten uns noch mehr abenteuerliche Offenbarungen. Nicht nur, dass die Holzpreise 2021 völlig durch die verrottete Decke geschossen waren. Auch unsere Giebel sind in Wahrheit nie mehr als dünne Fassaden gewesen, echte Fake-Walls mit nix dahinter, und wir hatten keine Ahnung davon. Der nächste große Sturm hätte die mittlerweile angefaulten Planken leicht durchstoßen und anschließend das ganze Dach auf dem Nachbargrundstück entsorgen können. Allein die Vorstellung war filmreif. Nicht zuletzt entpuppte sich Monsieur Zimmeurmánne nicht als Engel, sondern als petite 'als-abschneideur. Trotzdem bin ich mir immer noch nicht sicher, ob Gott ihn nicht vielleicht doch geschickt haben könnte. Denn die Arbeit an sich war gut, und wie, bitte schön, soll man ernsthaft lernen, seine Feinde zu lieben, wenn man überhaupt nie über's Ohr gehauen wird? Immerhin habe ich ihm nach seiner Entpuppung sogar nochmal meine Motorsäge geliehen (und heil wiederbekommen, Gott sei Dank).

Mit der konnte Nils sich auf seinem Besuch nach Herzenslust austoben und ein paar Bäume im Garten fällen, die unserem Nachbarn sowieso schon länger ein Dorn im Auge waren. Wie heißt es doch so schön im Englischen: "Man soll seinen Nachbarn lieben, wie sich selbst". 2021 erfüllten wir dieses Gebot und liebten unsere Nachbarn mit der Kettensäge.

Karen chillt auch mal

Der jährliche Haufen Kiefernzapfen auf unserem Rasen ist damit also gewaltig geschrumpft. Fast so sehr wie Karens Freizeit in diesem Jahr. Die Karen arbeitet aber selten mit Kettensägen, sondern eher extrem feinmotorisch.

Nämlich mit den allerkleinsten lebenden Menschen, die es auf der Welt so gibt, nur ein paar hundert Gramm leicht, wo man Venen so winzig wie Haare finden muss, um Medikamente spritzen oder Blut abnehmen zu können. Zum Glück macht ihr die Arbeit riesigen Spaß, deshalb war es nicht so schlimm, dass sie wegen Personalmangels dieses Jahr viel mehr Überstunden machte als überhaupt erlaubt ist, oft sogar in Doppelschichten. Jetzt im Dezember darf sie aber eine "staade Zeit" genießen, und "staad" heißt für sie "normal", also keine Überstunden, weil sonst dem Arbeitgeber Strafen drohen. Immerhin waren die Überstunden hilfreich für die vielen teuren Renovierungen im Frühjahr und Sommer.

Aber da hatten wir auch noch keine Ahnung, dass noch schlimmere Rechnungen kommen würden. Doch dazu später.

Ausreise

Klein ist dieses Jahr auch die Familie geworden. Das hat nicht nur damit zu tun, dass unsere Kinder groß sind. Vor allem hat es damit zu tun, dass sie sehr international groß geworden sind. Sie sprechen viele Sprachen, lernen immer noch neue dazu, waren auf der internationalen Schule. Das prägt das ganze Weltbild und die Lebensplanung.

Ole und Athene lebten ja seit ihrer Hochzeit hier in der Stadt. Wir trafen uns immer wieder mal zum Kochen, in Escape-Rooms, oder um jenes Spiel mit den Figuren dort zu spielen, die ich hier effektvoll fotografiert habe.

Dennoch war schon immer klar, dass sie bald in die Welt hinaus wollen. Sie haben sich lange und genau überlegt, welches Land ihren Vorstellungen entspricht, wo man gut und relativ sicher leben und arbeiten kann und vieles mehr. 2021 wurde das Ziel entschieden. Im Juni ging der Umzug nach Zentralamerika. Seither leben die beiden in Panama City und arbeiten von dort weiter in ihren schwedischen Jobs. Scheint gut zu funktionieren.

Der einzige Nachteil für uns alle ist halt, dass man dieses Brettspiel weder über Distanz noch wirklich nur zu zweit spielen kann...

Oh, wie schön ist...

Wenn Kinder auf die andere Seite eines Ozeans ziehen, dann ist das eine Sache und natürlich außergewöhnlich. Eine andere ist, dass die beiden anderen Kinder, die ja auch bisher im Ausland studiert hatten, ebenfalls dieses Jahr ihr Studium abgeschlossen haben. Denn damit geht eine Ära zu Ende - zumindest mental: Kinder werden eben nicht nur groß, sondern irgendwann auch selbstständig und lösen sich ab.

Leaving for good

Nils ist jetzt also Arzt. Weil er im britischen NHS ausgebildet wurde, ist es für ihn einfacher, seine berufliche Laufbahn dort erstmal fortzusetzen. Für die kommenden zwei Jahre wird er im Norden Schottlands in den Krankenhäusern Inverness, Wick und Stornoway eingesetzt werden (Stornoway ist übrigens auf den Äußeren Hebriden). Nils liebt und genießt die schottische Natur in vollen Zügen. Und weil die meisten seiner neuen Kollegen das ähnlich empfinden, ist es leicht, neue Freunde zu finden.

Wegen guter Coronazahlen konnten wir Nils Ende Oktober ein paar Tage besuchen und endlich sogar die Familie seiner langjährigen Freundin Anna kennenlernen.

Doch nur die Harten gehen baden in Loch Ness.

Love, actually

Svea jetzt auch mit Filmdiplom:

Auch sie schloss 2021 ihr Studium ab!

Auch wenn das Studium wegen Corona ganz anders verlaufen war als gedacht. Nachdem sie aus ihrer Wohngemeinschaft in Canterbury ausgezogen war verbrachte sie zum wahrscheinlich letzten Mal einen ganzen Sommer mit uns. Bei den kreativen Berufen gibt es wenig feste Anstellungen, obendrein braucht es Zeit, in die Szene zu kommen. Sie wählte deshalb Glasgow als ihr neues zu Hause. Es ist ein Zentrum der britischen Filmindustrie - und obendrein haben wir dort Verwandtschaft und Freunde aus CA-Zeiten. Manchmal hilft sie bei Dreharbeiten mit, und sie hofft auf das Glasgow-Filmfestival. Doch hauptsächlich verdient sie ihr Geld mit einem anderen Traumberuf: Als Köchin in einem asiatischen Restaurant.

The last supper...

Und damit sind es endgültig...

...nur noch wir zwei, sozusagen.

Der Herbst war alles andere als langweilig für uns. Nicht nur Karen hatte viel zu tun, auch für mich wurde es stressig, weil so viel gleichzeitig passierte. Ich hatte ja versprochen, hier nicht viel über Arbeit zu reden, aber wen es interessiert, findet hier eins von vielen kleinen Filmprojekten dieses Jahr, das außerdem meine Arbeit gut zusammenfasst.

Ansonsten war aber auch viel gutes Kochen, ein Marathon, und endlich mal wieder Oper angesagt.

Und dann war da noch diese feuchte Stelle in der Kellerwand. Nach vielen widersprüchlichen Meinungen beauftragten wir eine Firma mit Spezialkameras. Diagnose: Da hatte wohl auch jemand bei der Drainage gepfuscht - nicht nur bei den Giebeln, wie schon im Frühling entdeckt. Der Preis für eine neue und fachgemäß-ordentliche Entwässerung war gepfeffert, doch was soll man machen, wenn man nicht jetzt schon verschimmeln will?

Kurz darauf: Viele verdächtige Fehlercodes in der Heizung...

Der Techniker bestätigte nach langer Fehlersuche: Totalschaden. Eine Reparatur sei so teuer wie eine neue Anlage. Der Verkäufer brachte uns aber eine Woche später noch mehr Nachrichten: Wegen der anhaltenden Störungen in den globalen Produktions- und Lieferketten lägen sämtliche Lieferzeiten von sowohl Ersatzteilen als auch neuen Produkten bei mindestens drei Monaten, vielleicht sogar sechs oder noch länger - wer weiß das heutzutage schon?! Konkret bedeutet das immer noch: Ein ganzer Winter ohne Heizung! Naja, dachten wir uns, das ist ja wirklich dumm gelaufen! Aber der Göteborger Winter ist ja eigentlich immer sehr mild, wenig Frost, kaum Schnee, erst recht vor Weihnachten, da reicht sicher der Kamin...

Blick aus unserer Haustür seit November: Permanent zwischen -6 und -15°C

Seither heizen wir vor allem mit Strom und Holz, und das bei rekordhohen Strompreisen. Wir tragen's aber mit Fassung, erhöhen die Hypothek auf's Haus, vertrauen auf Gott, genießen die Adventszeit trotzdem, sind auch bei kleinem und bald winzigem Kontostand weiterhin guten Mutes und bleiben dankbar.

Vermutlich erleben wir Nachkriegsgenerationen des Westens zum ersten Mal eine dauerhafte Krise, die uns auch noch länger erhalten bleiben wird. Vermutlich erleben wir zum ersten Mal, wie es sich anfühlen kann, wenn alle unsere Pläne doch immer wieder durchkreuzt werden, wenn ganzen Gesellschaften die Kontrolle genommen wird. Das kennen wir nicht, wir dachten ernsthaft, wir seien schließlich die Herren über unser Leben - wir, die wir mit so vielen Möglichkeiten, mit Elektrizität, Technologie, großer Mobilität, ausreichend Wohnraum, Essen, Ausbildung, medizinischer Versorgung, Spielzeug und Luxus groß und geprägt wurden. Es ist neu und demütigend für uns, sich plötzlich wieder klein und unbeholfen, den Gewalten unterlegen zu fühlen. Wer aber lernt, sein Herz zu beugen, versteht Weihnachten etwas besser: Auch Gott wurde klein, mit winzigen Adern so dünn wie Haare, sehr begrenzt und plötzlich sterblich. Genau in diesen Beschränkungen wurde er der Herr jedweder Lage. Wahre Größe findet sich immer im Herzen. Jammern verkrüppelt. Mögen alle Einschränkungen, Restriktionen oder Einengungen uns helfen, die enormen Dimensionen der Weihnachtsbotschaft etwas besser erahnen zu können.

In diesem Sinne wünschen wir Euch allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes, gesundes und bewahrtes 2022.

Eure Karen und Euer Marcus

God jul!
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