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Ein Hörzeichen im Kampf gegen Gewalt Eine Grassroots FriedensInitiative an der ost-ukrainischen Front

Zündschnur Maidan

Kiew, 38 Grad. Durch die autobahnbreiten Strassen des Zentrums flanieren die Glanzseiten der Ukraine in knappen Minis oder teuren Wagen. Spiegelnde himmelhohe Glaseinkaufstempel und protzige, herausgeputzte sowjetische Bauten schauen stolz auf die kleinen Menschen herunter, die wie Spielfiguren an ihnen vorbeiziehen. Alles nur Puppentheater? Hinter den Fassaden stapelt sich der Müll, Obdachlose in entwürdigender Stellung, Scherben und Spritzen. Der Hosteleingang in einem Innenhof - den makellosen Fassaden des Staatstheaters direkt gegenüber - ist blutverschmiert.

Gebäude am Chrschtschatyk

Nur wenige Häuserblocks weiter liegt die Leid getränkte Chreschtschatyk Strasse, die zum Maidan Nezalezhnosti führt. Der imposante Boulevard - im Zweiten Weltkrieg bis auf ein einziges Haus in Schutt und Asche gelegt - wurde er auch Zeuge des neuesten Blutbades in der Stadt, als sich 2014 eine friedlich angedachte Demonstration in eine opferreiche Revolution entlud - der Euromaidan.

Chreschtschatyk während der Revolution

Erst waren da die paar wenigen Studenten, im November 2013, die gegen die Nicht-Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens protestierten. Dann die Niederschlagung der Demonstration mit exzessiver Gewalt durch die Sicherheitskräfte der Regierung. Und plötzlich, über Nacht, waren da Hunderttausende, die von nun an täglich auf den Maidan strömten. Was sich nun über den Pflaster des Maidans und von da aus über die ganze Ukraine ergoss, sollte bald die "Revolution für die Würde der Ukrainer" genannt werden, denn um die EU ging es schon lange nicht mehr, jedenfalls nicht der Mehrheit. Viel mehr hatte diese Menge von Unzufriedenen, von Intellektuellen bis Obdachlosen von radikal Links bis radikal Rechts der grassierenden Korruption und der Missachtung der Menschenrechte den Kampf angesagt.

Maidan 2014 und heute

Der Maidan füllte sich, organisierte sich, feierte sich. Ein Platz und sein Volk in der Euphorie, den Lauf der Geschichte verändern zu können. Verpflegungsstellen, eine Bibliothek, eine Feldpost, eine Universität, eine Verteidigungseinheit, medizinische Versorgung und allerlei kulturelle Aktivitäten von Tanz, Gedichten hin bis zum berühmten Klavier, in der beissenden Kälte. Und all das in kürzester Zeit. Aber auch in kürzester Zeit nahm die Aggressivität der Regierungsseite zu und mit ihr die Toten und die Trauerfeiern direkt auf dem Platz. Eine juristische Dienststelle für Opfer von Gewalt formierte sich und auch eine Gruppe zur Unterstützung von Hinterbliebenen.

Die zunehmende Gewalt gipfelte schliesslich in der Nacht vom 20. Februar 2014, in der über 100 Demonstranten ihr Leben liessen und Präsident Janukowitsch in einer Nacht- und Nebelaktion nach Russland floh. Und dann, bevor irgendjemand zur Besinnung kam, war die Krim bereits in Russland und im Donbass ein Krieg.

Gemeisseltes Porträt von Serhiy Nigoyan, dem ersten Maidanopfer

Das Land brodelt, das Chaos beginnt um sich zu fressen. Die Ereignisse überstürzen sich. Während sich im Westen die Wut mit der Absetzung des Präsidenten legte, entbrannte sie im Osten erst richtig. Die Radikalen wollten mehr, sie forderten die Unabhängigkeit und sie hatten einen starken Verbündeten, der geliebt-gehasste Nachbar Russland. Und so entstand in kürzester Zeit die von fast niemandem anerkannte Volksrepublik Donezk (DNR) und die Volksrepublik Lugansk (LNR).

Der Maidan - ein Symbol für zivilgesellschaftliches Engagement, Meinungsfreiheit und Aufbruchstimmung in eine selbstbestimmte Zukunft. Der Maidan aber auch die Zündschnur für die Sprengung und Zersplitterung einer Gesellschaft, die immer wieder mit geographischen, kulturellen, historischen und politischen Zerreissproben zu kämpfen hatte.

Eines der gestalterischen Projekte der Revolution

Ein fruchtbares Vakuum

Und heute? Heute ist der Maidan aufgeräumt. Er strahlt im neuen Nationalstolz und versprüht Normalität und Optimismus. Die Gedenktafeln suggerieren, dass es dem Volk gelungen ist, den Staatsfeind Janukowitsch zu besiegen und es werden die Helden der Revolution gefeiert, die “für die Würde der Ukrainer” gestorben sind. Der Platz vermittelt das Gefühl, dass das Problem der Vergangenheit angehört, überwunden ist.

Auf dem Maidan 2018

Doch das Land führt Krieg. Seit vier Jahren. Einen verfänglichen und zerstörerischen Krieg. Das auf den Euromaidan folgende Regierungsvakuum und die landesweite Destabilisierung wurde zum Nährboden für radikale Gruppierungen, das Aufheizen von unterirdisch gärenden Spannungen und geo-politische Machtansprüche von innerhalb und ausserhalb des Landes.

In der Zwischenzeit hat der Krieg bereits über 10'000 Menschenleben gekostet - also über 100 Mal mehr Leben, als der Euromaidan selbst. Die anfängliche Euphorie ist längst verflogen, der Krieg wurde zum Alltag. Warum gekämpft wird, ist vielen unklar. Fragt man die Menschen in Kiew, haben die wenigsten eine Antwort.

"Das ist nicht unser Krieg, das müssen Sie die da oben fragen."

Die da oben? Aber sterben tun die hier unten. Sie müssten doch wissen wozu.

Der Maidan während der Revolution

Genau so vage wie das Warum ist auch das Wer, also die Vorstellung davon, wer denn da überhaupt gegen wen kämpft.

"Es reicht, einen [Kriegs-] Prozess in Gang zu setzen, und schon laufen Menschen aus der ganzen Welt herbei, um schiessen zu dürfen, sie kommen wie zur Safari."

So Nikolai Borisov. Er lebt und arbeitet seit langem im Osten der Ukraine. Bereits in den 80er Jahren hatte er für ein Forschungsprojekt die wirtschaftlichen Gewebe und Strukturen im Donbass unter die Lupe genommen. Und bereits damals kam er zum Schluss: Die Situation in der Region ist explosiv.

Der Donbass habe eine der schwächsten Regierungsstrukturen in der Ukraine, da er sich durch den Kohleabbau zum Knoten für eine kriminelle Doppelwirtschaft entwickelt hatte. Diese haben dann auch in den 90er Jahren ein System von Oligarchen zu Tage gebracht, die in Windeseile und mit Hilfe der wilden Privatisierung die meisten politischen Führungspositionen besetzten. Auch Janukowitsch ist ein Kind des Donbasses. Durch die so entstandene schwache Regierungsstruktur und weil es an der Grenze mit Russland liegt, habe sich das Don-Becken besonders geeignet für die Eskalation. So sieht das Nikolai Borisov, eine kleine, feine fast schmächtige Figur, aber mit Wortgewandtheit und sicherem Auftritt. Er weiss wovon er spricht.

"In der Ukraine gibt es keinen Grund für diesen Konflikt, ausser dass eine kleine Minderheit seinen Willen der Mehrheit aufzwängt, eine Gruppe von Business-Banditen und die wurden auch noch von Russland unterstützt...es kämpfen Ukrainer gegen Ukrainer… der Konflikt ist absolut künstlich".

Doch die Toten sind echt. Und je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen werden involviert, desto mehr Leid entsteht und die Quellen für Hass- und Rachegefühle multiplizieren sich im Schneeballeffekt.

Im Dialog mit dem Feind

Handeln ist Dringend, Rat jedoch rar. Nikolai Borisov lässt sich nicht einzuschüchtern. Er kennt sich aus mit Konflikten. Ursprünglich Psychologe war er bereits in Jugoslawien, im Baskenland und in Nordirland in der Konfliktlösung im Einsatz und hat in den turbulenten 90er Jahren ein Mediatorennetzwerk aufgebaut, die "Ukrainian Mediation Group’” (1994—2000). 2014 nur kurze Zeit nach Beginn der Kämpfe, gründete er das Projekt Donbass Dialogue (DD) inmitten des ausbrechenden Chaos'. Der Projektname ist Programm, es will einen Dialog zwischen den lokalen Bevölkerungen, die in den Donbasskonflikt involviert sind, ermöglichen. Ein Dialog zwischen der pro-ukrainischen und separatistischen Seite, zwischen Ost und West, aber auch zwischen der Front und den von dort Vertriebenen. Ein Gespräch mit dem Feind. Und das während laufendem Konflikt und mit einer dadurch ständig mäandrierenden Grenzlinie zwischen dem Hier und dem Dort. Und die Frage drängt sich auf, ob das der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt ist für ein Gespräch.

Zwischen Minen und Depression

Spricht man vom “Donbass” meint man nicht eine sondern mindestens drei Realitäten. Da gibt es das von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiet im Westen, das nicht von der Ukraine kontrollierte Gebiet im Osten und den Frontbereich. Und gleich abgestuft wird die Lebensqualität. Am härtesten trifft es die Menschen an der Front. Laut einer groben Schätzung leben dort noch 100'000 Zivilpersonen, also in direkter Nähe der Kampfhandlungen und somit regelmässig in Lebensgefahr.

"Die Umstände dort sind katastrophal. Alleine das Wissen, wie schwer es die Menschen dort haben, ist für mich kaum erträglich."

So Nikolai Borisov, der regelmässig zwischen den Seiten pendelt, unter anderem um seine Verwandten zu besuchen.

Menschen die in dieser Zone bleiben, haben laut eigener Aussagen oft keinen Ort, wo sie hingehen könnten. Wer kann, schickt mindestens seine Kinder zu Verwandten, zu gross ist die Minengefahr. Auch die meisten Männer im Wehrdienstalter sind geflüchtet, da sie Gefahr laufen, als Kollaborateur festgenommen zu werden. Tragisch genug, sind es also oft ältere Frauen, die in den Häusern bleiben, diese sozusagen hüten. Unter anderem um zu verhindern, dass ihr Besitz von der unzimperlichen Armee “umgenutzt” wird. Die Landwirtschaft verkommt hoffnungslos, keiner weiss, wo die nächste Mine liegt, nicht einmal die Kampftruppen selbst, sobald sie einmal rotiert haben.

Kiew, Revolutionsdenkmal

Die permanente Gefahr und der höchst eingeschränkte Bewegungsraum, die Arbeitslosigkeit und der Mangel an Kontaktmöglichkeiten hat für viele schlimme psychische Folgen. Psychiater und Ärzte sind allerdings weit zu suchen wie auch die Angestellten der Behörden. Die Bevölkerung fühlt sich von Kiew vollkommen im Stich gelassen und ebenfalls von der Armee - von den Armeen. Der Krieg hat bereits knapp 2 Millionen Vertriebene hervorgebracht, im unkontrollierten Gebiet leben schätzungsweise noch 2.5 Millionen.

Die Grenze kann zwar überquert werden, ist aber mit grossen Erschwernissen verbunden. Stundenlanges Anstehen, oft über Nacht, Schmiergelder, Schikanierung und die Nähe zum Konfliktherd, machen die Überquerung zu einer Qual und einem teuren und gefährlichen Unterfangen. Viele schaffen es nicht einmal an die Beerdigung ihrer Verwandten. Es wird erzählt, dass es vorkommt, dass ältere Menschen bei der kräftezehrenden Überquerung sterben. Trotzdem sind es mehrere Tausend täglich, die diese Qualen auf sich nehme. Sei es um auf der ukrainischen Seite einzukaufen, Medikamente zu besorgen, Verwandte zu besuchen oder Rentengelder oder sonstige soziale Leistungen abzuholen, denn diese können sie auf der Ostseite nicht beziehen.

Allerdings riskieren sie bei jeder Überquerung, dass die Grenzwache, ihre Daten an die Behörden weiterleiten, die daraufhin den Grenzgängern - inoffiziell - die Sozialleistung streichen - Landesverräter.

Und wo es Grenzen gibt, ist wie so oft die Korruption nicht fern.

"Die Zöllner verstecken die Geldhaufen nicht einmal… Natürlich gibt es hier viele, die haben absolut, aber absolut kein Interesse daran, dass diese Checkpoints je wieder verschwinden",

erzählt eine der regelmässigen Checkpoint-Passantinnen.

Zu den Vertriebenen gehört auch Nikolai Borisov und Daria Orlando, sie haben sich auf die kontrollierte Seite gerettet. Nicht gerade sicher, aber doch immerhin so, dass sie Strom haben zum Arbeiten, eine Arbeitsstelle, um die Freiwilligenarbeit bei DD zu finanzieren und gut vernetzt bleiben, um den Donbass Dialog am Laufen zu halten - ein Projekt, das vom ununterbrochenem Internetzugang lebt.

Ein Dialog jenseit von Gut und Böse

Internet ist das Schlüsselwort dieses neuartigen Projektes, neuartig nicht nur weil während laufendem Konflikt geführt, auch weil beide Konfliktseiten involviert sind und weil Crowdsourcing bisher nicht in der Friedensförderung angewendet wurde.

Konkret ist der Ablauf der Folgende: Erst wird von den Organisatoren zusammen mit einer Expertengruppe ein Oberthema gewählt basierend. In einer geschlossenen FB-Gruppe werden dazu Fragen gesammelt (Crowdsourcing), diese wiederum zusammengeführt, "aggregiert" und die so entstandenen Unterthemen der FB Community zum abstimmen vorgelegt. Die so ausgearbeiteten, höchst bewerteten Fragen legen die Grundlage für das vier Tage dauernde Online-Gespräch. Jedes der einzelnen Gespräch zwischen jeweils 2-3 Personen wird von einem Faziliator (Vermittler) geführt. Zwischen den Gesprächen gibt es thematische Inputs von Experten. Im Anschluss an die Gespräche modeliert die Expertengrupppe das Besprochene in eine Schlussfolgerung um.

Eine der Revolutionsikonen 2018

Crowdsourcing in der Friedensförderung?

Crowdsourcing bedeutet, dass die zu diskutierenden Themen nicht von den Organisatoren vorgegeben (top-down) sondern von den Beteiligten gemeinsam in einem 4-monatigen Online-Prozess erarbeitet werden. Der Hauptvorteil ist, dass möglichst viele Menschen in den Friedensprozess miteinbezogen werden können. Diese inklusive Arbeitsweise ist einerseits für das Resultat der Gespräche ausschlaggeben, in dem sich eine Vielzahl von Perspektiven und Erfahrungen widerspiegeln. Zweitens trägt sie bedeutend dazu bei, dass die betroffenen Menschen aktiv werden. "Sie werden heraugeholt aus ihrer Starre des behördenhörigen und schicksalsergebenen Homo Sovjeticus", heraus aus ihre Haltung des Klagens und Fragens hin zu einer Haltung des Mitdenkens und Einbringens von eigenen Vorschlägen, in einen Prozess des gemeinsamen Gestaltens des Zusammenlebens.

Eine verwirrende Begegnung mit der Front

Während sich die Donbass-Dialog Equipe in die letzen Vorbereitungen vertieft, wird an der Front weitergeschossen. In Kiew ist diese Front durch das geschäftige Alltagstreiben und die Heroisierung der Maidanopfer in den Hintergrund gerückt. Einzige Erinnerung sind die auffällig zahlreichen unbewaffneten Soldaten, die in der Stadt unterwegs sind, mit Kriegsverletzungen am Strassenrand um Geld betteln und neben den Maidangedenkstätten übernachten. Sie seien im Urlaub, lachen sie. Eigentlich sind sie Kriegsverletzte und gehören ins Spital. Aber dieses können sie sich nicht leisten, deshalb tummeln sie sich gemeinsam mit anderen Freiwilligen um den Maidan und verkaufen die Gedenkstoffbänder, die Passanten an die Denkmäler knüpfen und deren Erlös den Kriegsverletzten zukommt. "Wir kriegen gar nichts von Kiew, vom Essen bis zu den Unterhosen wird uns alles von Freiwilligen gebracht." Und wieso genau kämpfen sie trotzdem für die Ukrainische Armee, wenn sie von dieser Regierung vollkommen im Stich gelassen werden? "Wir kämpfen nicht für die Regierung sondern für die Verteidigung unseres Landes. Wenn wir die Position aufgeben, ist die pro-russische Seite morgen in Kiew."

Wieder versucht ein Luxuswagen vor der Gedenktafel zu parken. Die beiden Soldaten schicken ihn höflich aber bestimmt weg. "Etwas mehr Respekt für die Toten, bitte." Der Polizist, der eigentlich genau für diese Aufgabe angestellt wäre, sitzt in einiger Entfernung im Schatten und raucht.

Die beiden sind zwischen dreissig und vierzig, freundlich, sprechen fliessend russisch und ukrainisch. Sie sind offen und haben die Welt bereist und zitieren russische Literatur. Irgendwo haben sie auch eine Familie. Es scheint, als gäbe es nichts Einfacheres, ihnen die Uniform auszuziehen und sie in Shorts, Sonnenbrille und Flipflops an den nahe gelegenen Sandstrand zu schicken, ein normales Leben zu führen fern von betäubenden Detonationen, brennenden Feldern und durch Minen abgetrennten Körperteilen. Was bringt sie dazu, täglich ihr Leben zu riskieren? "Wir kämpfen für unser Volk." Für welches Volk? In diesem Wirrwarr von Bevölkerungsverschiebungen, die nicht nur die Sowjetunion mit sich brachte. Beide haben russische und ukrainische Wurzeln. Und auch ihr "geographisches Volk" also die Zivilbevölkerung in den Kriegsgebieten leidet offensichtlich unter der Präsenz der Armee anstatt sich von ihr geschützt zu fühlen. "Die unterstützen die andere Seite, sind doch alles Separatisten, auch wenn sie auf unserer Seite der Front leben. Warum sollten wir sie schützen?"

"Wir müssen zurück an die Front, es gibt fast keine erfahrenen Kommandanten. Wenn ich nicht zurückkehre, werde ich durch einen jungen unerfahrenen Offizier ersetzt und das wird viele Menschenleben kosten, das kann ich doch nicht zulassen." Der zweite ergänzt. "So viele meiner Freunde sind für diese Sache gestorben, ich muss sie jetzt zu Ende führen nur schon ihretwegen." Die beiden stehen zwischen den schwarzen Metallgestellen, auf denen die Porträts der Maidanopfer ausgestellt sind. Die Gesichter der gefallenen Soldaten sucht man hier vergebens.

"Das Schlimme ist, die Kriegshandlungen sind völlig überflüssig, es geht um gar nichts, ein Telefonanruf und eine Flasche Vodka würde reichen und beide Armeen würden sich zurückziehen. Wir warten alle nur auf diesen Befehl".

Und vor dem Krieg? Vor dem Krieg führten sie ein Geschäft in Russland. "Wir haben nichts gegen die Russen, nur etwas gegen die Separatisten. Oder gegen die eigentlich auch nicht, sind nette Kumpels dabei. Wenn es ruhig ist und kein Befehl von oben kommt, rauchen wir zusammen und reden über Frauen." Sie lachen. Und nach einer Pause: "Mein Bruder kämpft auf der anderen Seite." Und sie zünden sich beide eine Zigarette an.

Gedenkbänder

Reden gegen den Strom

Menschen, die gegeneinander Krieg führen, lassen sich nur schwer zu einem Gespräch überreden. Die Gefahr, die Beziehungen zu verschlimmern ist erheblich. Und das Risiko selbst “zwischen die Fronten zu geraten” ist im direkten und übertragenen Sinne allgegenwärtig. Die Bevölkerungsgruppen auf beiden Seite der Front werden genährt mit hassschürenden Narrativen, in denen die Menschen der anderen oder einer dritten Seite als Bedrohung und Grund des Krieges dargestellt werden. Mit jedem Tag und jedem Tod mehren sich Wut und Unverständnis. Die Menschen aus diesem Sog herauszureissen und für die Teilnahme am DD zu gewinnen ist eine der schwierigsten Knacknüsse für die Organisatoren. Dazu kommt, dass viele "mit dem reinen Überleben" ausgelastet sind. Und "in der Ukraine fehlt es katastrophal an professionellen Fazilitatoren...Das Land hat seine Faziliatoren auf dem Maidan verloren. Viele waren sehr engagiert in der Maidanbewegung. Was auch bedeutet, dass die meisten ihre Neutralität verloren haben. Und ein Fazilitator ohne Neutralität ist ein wertloser Fazilitator."

Und nicht zuletzt stellt das Arbeiten in der Nähe und mit der Front immer wieder sicherheitstechnische Herausforderungen. Und - "die Familie leidet sehr darunter", gibt Nikolai Borisov zu, "es wäre viel einfacher, wegzuziehen".

Beim Zählen der Toten

Anfangs Juni 2018. Auf der desillusionierenden Webseite der OSZE werden neue Verletzungen des Waffenstillstandes verzeichnet. Diese Festzuhalten gehört zu den Kernaufgaben der Special Monitoring Mission (SMM) der OSZE. Sie publiziert die Verletzungen täglich. Die heutige Liste ist lang, 10 Seiten lang. In den letzten 24 Stunden ist es zu (mindestens) 185 Waffenstillstandsverletzungen gekommen. 27'000 Verletzungen waren alleine im Monat Mai gemessen worden. Immer wieder sind auch zivile Personen betroffen, werden isoliert, verletzt oder getötet. An den Waffenstillstand, der mit den Minsker Abkommen I (2014) und II (2015) festgelegt worden war, glaubt schon lange niemand mehr. Weder die Soldaten, noch die Politiker noch die Zivilbevölkerung. Nach wie vor benützen beide Seiten schwere Waffen, die grosse Schäden anrichten, die Truppen sind viel zu nahe positioniert und es gibt keinen neutralen Akteur zwischen ihnen, der für die Respektierung des Waffenstillstandes garantieren könnte. Die Frage nach dem "wer hat angefangen" gleicht der Frage nach dem Huhn und dem Ei. Beide Seiten sehen sich als Opfer und ihre Handlung als pure Selbstverteidigung.

Und warum gehen die Angriffe weiter trotz OSZE Präsenz? "Die schauen ja nur zu!" lacht ein Kommandant, während er den Frontverlauf und die OSZE Positionen auf ein zerknittertes Stück Papier kritzelt. Der SMM, der grössten und teuersten OSZE Mission mit - im Juni 2018 - über 1200 Personen im Einsatz, bleibt nicht viel anderes übrig als zuzuschauen und zu zählen. Sie zählt und zählt und schätzt. Es sei oft "schwierig festzustellen wer was woher und wohin schiesst", bemerkt ein OSZE Mitarbeiter in einem ernüchternden Gespräch über die hoffnungslose Situation. Ist es da nicht - gelinde gesagt - deprimierend dabei zusehen zu müssen, dass die eigene Präsenz offensichtlich die Kriegsparteien in keiner Weise einzuschüchtern vermag? Zögern. “Offiziell gesehen, wenn wir präzise festhalten, was geschieht, ist unsere Mission erfüllt und unsere Leistung ist diesbezüglich sehr zufriedenstellend. Auf persönlicher Ebene - auf persönlicher Ebene kann es allerdings schon sehr deprimierend sein.” Ist der Einsatz der OSZE in der aktuellen Konfliktsituation denn wirklich gerechtfertigt angesichts der Ohnmacht, der Kosten und nicht zu vergessen der Todesopfer von OSZE-Mitarbeitern? Allgemeines Seufzen, auf politischer, diplomatischer, zivilgesellschaftlicher und militärischer Ebene, im Osten wie im Westen der Front.

Und doch bleibt sie eine der einzigen und zuverlässigsten Quellen zum Geschehen an der Front. Ausserdem verhandelt sie immer wieder kleinere aber überlebenswichtige Waffenstillstände, damit mindestens zivile Anlagen, die in die Schusslinie geraten sind, repariert werden können. Wie zum Beispiel die Wasserfiltrationsanlage, bei deren Ausfall 400'000 Menschen ohne sauberes Wasser auskommen müssen. Und sie bemüht sich um einen Dialog, so zum Beispiel beim Austausch der Gefangenen, der von der humanitären Gruppe der SMM Ende 2017 erwirkt werden konnte. 380 Gefangene, nach fast drei Jahren Verhandlungen - eine Errungenschaft und doch bleibt es ein Tropfen auf den heissen Stein.

10'000 Menschenleben in nur 4 Jahren bedeutet einen Schnitt von 7 Menschenleben pro Tag. Und wo bleibt die Bevölkerung? Die Menschen, die sich bei den brutalen jedoch nicht tödlichen Massnahmen gegen die Demonstranten im November 2013 vom einen auf den anderen Tag zu Hunderttausenden auf den Maidan drängten? Die Millionen von Menschen, die den Euromaidan moralisch und finanziell unterstützten? Die Medien und sozialen Medien, die einem kleinen Funken ermöglichten, Menschenmassen weltweit in Bewegung zu setzen. Jetzt, wo es um über 10'000 Tote geht, schweigt das Volk. Es schweigen die Medien. Es schweigt die internationale Politik. Längst hat sich die Ukraine Fatigue verbreitet.

Grundlos optimistisch?

Kann die Zivilgesellschaft überhaupt eine Rolle spielen in diesem Konflikt? Oder haben doch diejenigen Recht, die glauben, dass eine Lösung nur "von denen da oben" kommen kann?

Tatsächlich wird die Zivilgesellschaft von der politischen Ebene kaum miteinbezogen. Aus mangelndem Vertrauen und vor allem auch, weil sich die Regierungsvertreter bis anhin nicht einigen konnten, wer überhaupt die Kriegsparteien sind. Zwischen wem soll vermittelt werden? Ein Dialog zwischen Ukrainern von beiden Seiten der Konfliktlinie wird von der ukrainischen Regierung abgelehnt. Ein Dialog zwischen Staatsbürgern der Ukraine und Russland wiederum ist für Russland inakzeptabel, das sich nicht als Kriegspartei sieht.

Und dennoch, bleibt auch für die Zivilgesellschaft genug zu tun.

"Der Konflikt ist mittlerweile so komplex, dass es nicht eine Lösung braucht, sondern eine Vielzahl von Lösungen auf verschiedenen Ebenen",

ist Nikolai Borisov ist überzeugt.

Tödliche Gesprächspausen

Ein Blick zurück auf die politische Ebene, die Track 1 Mediation, stimmt etwas weniger optimistisch. Ganze 16 Monate hatten sich die Präsidenten der Ukraine und Russland nicht mehr getroffen. 16 Monate, während denen fast täglich Menschen für diesen Konflikt sterben, aus Überzeugung, aus gutem Willen, aus Verblendung, aus Hoffnung, dass ihr tödlicher Einsatz das Land einer Lösung näher bringt. Diese lange Gesprächspause weckt Zweifel, ob der politische Wille überhaupt vorhanden ist, dieses Niedergarschlachten zu beenden. Russland kann seinen Einfluss demonstrieren und eine weitere Annäherung der Ukraine an die EU behindern. Die Ukraine ihrerseits kommt der Krieg gelegen, um von internen Problemen (inklusive der nach wie vor grassierenden Korruption) abzulenken, von westlicher Unterstützung zu profitieren, und nicht zuletzt um zu verhindern, dass die im Donbass lebenden Bevölkerungsgruppen, die sich von Kiew im Stich gelassen sehen, ein Wahlrecht erhalten. Und Europa ist verunsichert, ob es nicht doch mit seiner Entweder oder-Strategie, "Russland oder wir", Ukraine's Abdriften von einer Krise in einen Krieg begünstigt hat.

Die so dringend benötigte Dezentralisierung und Föderalisierung dieses Landes, das flächenmässig fast doppelt so gross ist wie Deutschland und dessen unterschiedlichsten Regionen nur sehr wenig miteinander zu tun haben, geht nur sehr schleppend voran. Auf verschiedensten Ebenen wird Föderalisierung mit Abspaltung und Abspaltung mit Terrorismus verbunden. Also Föderalisten gleich Terroristen. Ein Gedankengang, an den man sich als Schweizer_in erst einmal gewöhnen muss.

Am 11. Juni treffen sich nun die Aussenminister von Russland und der Ukraine im sogenannten Normandie-Format, also gemeinsam mit Deutschland und Frankreich. Haupttraktandum: Die Stationierung von UN Blauhelmen, die zumindest den Waffenstillstand garantieren könnten. Doch die Vorstellungen, wie eine solche Mission aussehen sollte, liegen auch nach dem Gespräch noch sehr weit auseinander - zu weit. Russland will die Friedenstruppen ausschliesslich an der Frontlinie in der Ostukraine einsetzen. Die Ukraine hingegen will Blauhelme im ganzen Kriegsgebiet, vor allem an der rund 400 Kilometer langen Grenze zu Russland. Der Optimismus bezüglich einer Einigung ist klein. "Vielleicht in zwei Jahren" ist von diplomatischen Kreisen zu hören.

Blick auf den Europaplatz

Nicht ins Stocken gerät aber die Front. Verschiebt sich weiter, ein Dorf nach rechts, ein Dorf nach links. Sie frisst sich weiter in die Leben der Bevölkerung. Ganz ohne Hast. Eine Lösung liegt in weiter Ferne. Nach wie vor hat die Zivilbevölkerung erschreckend hohe Verluste zu tragen. Im Mai alleine starben laut OSZE 10 Zivilpersonen und 25 wurden verletzt. Darunter immer wieder Kinder. Und während die Aussichten auf Frieden sinken, steigen die Lebenskosten für die Ukrainer. Die Preise für Fahrkarten haben sich diese Woche verdoppelt, der Brotpreis ist um einen Viertel gestiegen. So existenzbedrohend mickrig wie zuvor sind soziale Dienstleistungen wie Renten. Viele müssen - auch in der teuren Stadt Kiew - mit 50 Franken pro Monat durchkommen, das heisst Kartoffeln, Kohl und Buchweizen. Alte Frauen, die sich mit dem Verkauf von Beeren, Kräutern und Milchprodukten etwas dazuverdienen wollen, säumen die Strassen. Doch immer öfters werden sie von der Polizei vertrieben.

"Wir können jetzt zwar theoretisch visafrei nach Europa einreisen, aber Geld zum reisen hat keiner",

bringt einer der zufälligen Gesprächspartner eine weitverbreitete Stimmung auf den Punkt.

Zurück zum Lebenssinn

In der Zwischenzeit ist der Donbass-Dialog erfolgreich durchs Kabel. Ein Dialog über das schwierige Thema Rückkehr. Eine Rückkehr wohin? Alle wissen, dass es diesen Ort, diesen Zustand, diese Zeit, in die sie zurückkehren möchten, bereits nicht mehr gibt, für immer verloren ist. Sie teilen ihre Vorstellungen, Wünsche, Bedingungen, Ängste und Visionen davon, wie sie ihr zukünftiges Zusammenleben gestalten möchten.

Das DD-Team ist völlig übermüdet doch zufrieden. Die Resultate werden erst in den nächsten Wochen auf ihrer Seite publiziert werden, erst wenn sie von allen abgesegnet sind. Nikolai Borisov schaut auf vier Jahre intensivsten Einsatz zurück.

"In Betracht der Umstände, unter denen wir arbeiten, ist nur schon die Tatsache alleine, dass das Projekt noch existiert, ein Erfolg".

In den vier Jahren hat es das unbezahlte und unterbelegte Team geschafft 25 Dialoger für die Gespräch zu mobilisieren, die Online-Gemeinschaft ist auf 350 Personen gestiegen, die Expertengruppe auf 60 Personen und die Anerkennung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene hat deutlich zugenommen. "Aber das Wichtigste, so Nikolai Borisov, “das Wichtigste sind die Veränderungen, die die Dialoger selbst durchmachen. Zu Beginn glauben sie, sie wüssten alles über den Krieg. Durch DD erst wird ihnen bewusst, dass es sich um sehr diffuse Meinungen und Vorstellungen handelt, die sie über einseitige Informationskanäle aufgebaut haben, nicht aber um Wissen. Der DD wird für sie zu einer entscheidenden Informationsquelle, um einen eigenen Standpunkt zu definieren. Und vor allem verstehen sie, dass sie Teil der Lösung sind... Sie entwickeln sich von Objekten zu selbst denkenden und selbst entscheidenden Subjekten."

"Und was faszinierende ist, sie einigen sich fast immer auf etwas, sogar diejenigen, die aufeinander schiessen... Zu sehen, wie diese Menschen gemeinsam an einer Lösung arbeiten, ist eine grosse Befriedigung."

Und Daria Orlando? Die fleissige Ehrenamtliche im Hintergrund, die so vieles zusammenhält, plant, ordnet, organisiert, endlose Stunden in das Projekt investiert und dies neben dem ohnehin nicht gerade süssen Alltag im Donbass.

"Mein grösster Erfolg? Mein grösster Erfolg ist es, dass ich überhaupt noch lebe." Sie lacht. Sie lacht laut und vergnügt an diesem siedend heissen Sonntagnachmittag auf einer Bank im Schewtschenko-Park. Und man möchte mitlachen in der Hoffnung, dadurch die tragische Realität in ihren Worten zu verscheuchen.

Daria Orlando

DD schaute nach vorne. Die Plattform soll ausgebaut und eine Zusammenarbeit mit den Vertretern der Verhandlungen auf Regierungsebene aufgegleist werden. Ausserdem wollen sie dringend Fazilitatoren ausbilden. Und, und, und.

Ihre Vision reicht unüblich weit über den üblichen Konflikthorizont hinaus. "Wenn der Krieg vorüber ist, wird es vielleicht Dialog-Busse geben, die in der ganzen Ukraine zum Gespräch einladen, zum Gespräch über schwierige Themen mit Menschen, denen man sonst nicht begegne würde.” An Themen und Regionen würde es nicht fehlen. “Die Crowdsourcing-Methode hat noch enormes Potenzial für die Anwendung in verschiedensten Lebensbereiche und kann zur Stütze eines langzeitig friedlichen Zusammenlebens der vielfältigen ukrainischen Gesellschaft beitragen, ist Nikolai Borisov überzeugt. Eine Friedensorganisation, für die Frieden nicht das Ziel ist. Sondern der Prozess. Ein permanenter Prozess.

Zwischen Altlast und Zukunftsvisionen

Die Sonne geht unter über Kiew, mit seinen endlosen Parks, dem weit verästelten Dnepr und seinen sommerlich entspannten Bewohnern in Wochenendstimmung. Diese blutgetränkte Stadt riecht heute nach Blumen und an den Strassenrändern häufen sich Berge aus frischen Beeren. Der Chreschtschatyk ist gesperrt und die breite Strassenfläche hat sich in eine Ausgangsmeile verwandelt, auf der Breakdancer, Skater, Familienpicnics, Gokarts, Technoparties und Jongleure durcheinander treiben. In den letzten Sonnenstrahlen glänzt die Stadt als wäre sie aus reinem Gold. Und inmitten des Abendsonnenkitschs stehen die Porträts der "himmlischen Hundertereinheit", die ihr Leben auf dem Maidan gelassen hat. Sie säumen die Strassen, sind angelehnt zwischen Pflastersteinen oder eingebettet in Autopneus. Sie kleben an Bäumen, an Strassenlampen an Metroeingängen und Säulen. All diese provisorischen Gedenksstätten sind, wie so vieles im Zusammenhang mit dem Maidan, auch eine Initiative der Zivilgesellschaft. Menschen halten inne vor den Tafeln, die einen zum lesen der Gedichte, Namen und Alter die anderen zum beten zum gedenken zum weinen.

Die Stadt sehnt sich nach Sommer, nach Normalität nach Sorglosigkeit. Aber ob das Sehnen reicht? Die zerschlagenen Bodenplatten des Maidans zeigen noch die Spuren einer zerrüttenden Vergangenheit. Die Menschen darauf tanzen vergnügt. Vielleicht auch gerade so ausgelassen, weil hier niemand sicher ist, wie lange diese Stimmung anhält. Folgt schon bald eine viel grössere Finanzkrise, eine Verschärfung der Kampfhandlungen, eine weitere Verhärtung der Positionen und vor allem noch viel mehr Armut und Leid für die Bevölkerung, die die Folgen der Unruhen zu tragen hat?

Auch da ist aber auch das Gefühl von einem neuen Wind, von einer neuen Identität, von einem Vorwärtsdrängen, einem neuen sozialen Zusammenhalt, weg vom Gefühl der Machtlosigkeit hin zu Partizipation, weg von Resignation hin zu "wir schaffen das". Menschen, die sich einsetzen für einen Dialog an den unmöglichsten Orten und zum unmöglichsten Zeitpunkt. Die sich einsetzen für die Gestaltung eines Raums, in dem sie gemeinsam leben wollen und in dem sie als Zivilgesellschaft eine aktive Rolle spielen. Menschen, die Frieden nicht als unterzeichneten Vertrag sondern als permanentes Arbeiten an Beziehungen verstehen und Menschen, denen es gelingt der Aussichtslosigkeit konkrete Handlungen gegenüber zu stellen und Kriegsbetroffenen ein Stück Lebenssinn zurückzugeben.

Und ich?

Wie ich in Kiew angekommen bin, in der Stadt der zurecht geputzten verschnörkelten Stalin-Fassaden und blutverschmierten Hinterhöfen ist mein erster Gedanke: Nichts wie weg von hier. Zu grotesk. Eine Faust aufs Auge, im übertragenen und direkten Sinn. Der Hostelmitbewohner, der kurz vor meiner Ankunft im Eingang zusammengeschlagen wurde, sitzt in gekrümmter Haltung, mit blutverschmierten Kleidern und voll verschlagenem Gesicht am Küchentisch. Beim Anblick seiner Verletzungen wird mir übel und ich möchte einfach nur Bulgakovs Voland sein und spurlos verschwinden. Mis ausradieren. Eigentlich will ich mit ihm überhaupt nichts zu tun haben, überhaupt mit der Stadt will ich gar nichts zu tun haben, mit ihrem schrecklichen Krieg und der ganzen tragischen von Hunger und Elend geprägten Geschichte. Aber ich bin da. Und bereits hat der Unbekannte einen Namen. Und bevor ich es merke, bin ich schon Teil der Geschichte.

Und ich spüre einmal mehr, dass der ganz grosse Unterschied zwischen Lesen und Besuchen darin liegt, dass man beim Besuchen - ob man will oder nicht - einfach Teil der Handlung wird, sich den Situationen und Fragen aussetzt, vor denen man sich als Leser ducken kann, passiv bleiben kann. Einmal drin, kann man nicht neutral sein. Auch nichts tun wird zu einer Handlung.

Der Mensch wirkt hier immer klein

Ich schlafe schlecht. Das Erste, was ich am Morgen feststelle, mein Essen wurde mir aus dem Kühlschrank gestohlen. Und es wird mir noch beim Aufwachen bewusst, mit wem ich das Hostel, die Stadt, das Land teile. Mit jenen Menschen, die sich nicht einmal Grundnahrungsmittel leisten können.

Viele Ukrainer, die sich Vorauszahlung für eine Wohnung nicht leisten können, wohnen hier in Hostels, wo sie täglich zahlen. Die Hostelbesitzerin stellt den Typen von der Schlägerei, Bagdan, ohne mit der Wimper zu zucken vor die Tür. Sein Aussehen wirke abschreckend auf andere Hostelgäste. Und da sich andere Hostelbesitzer dieser Meinung anschliessen, wird er die nächsten Nächte im Park verbringen. Wir bleiben im Kontakt. Aber zuerst begleite ich Bagdan zur Polizei, denn er sieht ja überhaupt nichts aus seinen vollkommen schwarzen und aufgeschwollenen Augen und - er hat Angst, dass er beim Verfassen der Anzeige in irgendeiner korrupten Kammer verschwindet. Wir werden von einem schummrigen Keller in den nächsten geschickt, quer durch die ganze Stadt. Schnell wird klar, dass offenbar niemand zuständig ist - sein will. Und vor allem wird klar, dass auch hier Parallelwelten herrschen, Realitäten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die nebeneinander existieren, eine genau so real wie die andere.

Und ich mittendrin, schwebe zwischen den beiden Realitäten. Am Morgen eine billige Kaffeebrühe bei den Gedenkstätten mit Rückkehrern aus dem Donbass-Krieg, am Nachmittag ein Besuch auf einer schicken Botschaft. Flanieren in den schönen Strassen und teuren Cafés und Abtauchen in eine Unterwelt, in der die verwahrlosten Verlierer um ein Stück Brot kämpfen.

Vom Hostel zum Maidan führt mich die Institutskaya, die Strasse, die während dem Maidan zum Blumenmeer wurde, wo Tausende von Menschen Blumen für die Maidanopfer niederlegten. Heute stehen hier die meisten Gedenktafeln. Ich gehe jeden Tag den Gesichtern der Toten entlang. Ich spreche in Gedanken mit ihnen über den Maidan, die ganze sinnlose Töterei und über Krieg und Frieden. Und über die Hoffnung, die Hoffnung, dass es irgendeinen Sinn gibt, dass sie mit 21, 27, 39, 22, 54, 83 Jahren auf so tragische Weise ihre Leben liessen. Und ich denke an all die, die hier nicht ausgestellt sind, weil - 10'000 Porträts auszustellen, schwierig ist.

Institutskaya

Und während ich am letzten Tag meines Aufenthalts durch die ausgedehnten Parks und überdimensionalen Gedenkanlagen zum Holodomor, zum 2. Weltkrieg, zum Afghanistankrieg wandere, über Millionen und Millionen und Millionen von Opfer lese, beschleicht mich das ekelerregende Gefühl, dass es doch den einen oder anderen ganz recht ist, wenn mehr und mehr Menschen sterben an dieser künstlichen Front, damit man nachher wieder grosse Gedenkstätten aufbauen kann und die schrecklich hohen Menschenkosten ein Grund mehr sind für Patriotismus und Nationalismus und das Aufbauschen von krankhaft übersteigerten Selbst- und Fremdbildern, die zu weiteren Konflikten führen. Die Opferzahlen zum Donbass gehen in den unterschiedlichsten Quellen weit auseinander. Menschenleben werden - nicht nur hier - zu Statistikelementen reduziert, die manchmal nach oben oder nach unten gedrückt werden, wie es gerade besser passt, um die gewünschten Reaktionen in der Bevölkerung hervorzurufen.

Und mich quält die Frage, was es braucht, dass es dazu kommen kann, dass sich zwei Brüder an derselben Front gegenüberstehen, um “für ihr Volk” ihr Leben zu riskieren.

Und ich bin froh, dass ich geblieben bin und dass ich Menschen kennengelernt habe, für die solche Tatsachen nicht Grund für Resignation sind sondern Motivation weiterzukämpfen, bis er kommt, der Frieden und weit darüber hinaus.

"Friedensallee"
Created By
Lea Suter
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