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«Ich habe langsam keine Kraft mehr» Sie wollte nie auswandern, und hat es dann doch getan. Denn es waren andere Zeiten, als Marilu vor 30 Jahren aus der Dominikanischen Republik in die Schweiz kam. Sie bekam eine Chance, von der viele träumen, und die ihr Leben für immer veränderte. Eine Familiengeschichte mit Zeitdokumenten aus dem Familienalbum.

1989: Marilu in Cabarete, Dominikanische Republik.

Früher ritt Marilu mit dem Esel zum Arzt. Die Milch holte sie beim Bauern. Eier klaute sie den Hühnern im Stall. Früchte und Gemüse gab es meist aus dem eigenen Garten. Um kochen zu können, musste sie zuerst Feuer machen. Heute fährt Marilu mit ihrem Opel Corsa zum Arzt. Kauft Milch, Eier und alles andere gleich an ihrem Arbeitsplatz beim Discounter.

Sie nennt es ein grosses Glück, dass sie in die Schweiz kommen durfte, hat dabei aber gleichzeitig auch etwas Trauriges in den Augen. Eigentlich wollte sie ihre geliebte Mutter nie verlassen.

Marilus 2016 verstorbene Mutter in der Dominikanischen Republik.

Doch dann lernte sie bei der Arbeit als Kassiererin im «Beach Hotel» in Cabarete, einem Badeort an der Nordküste der Dominikanischen Republik, den Schweizer Carlo kennen, der dort als Küchenchef arbeitete. Sie dachte nicht, dass es für immer sei, als sie Anfang ihrer Zwanziger mit ihrem Mann Carlo und der gemeinsamen Tochter in die Schweiz reiste. Zuerst waren nur Ferien geplant. Danach ein Jahr Aufenthalt, um Geld zu verdienen. Daraus wurden 30 Jahre.

Marilu und Carlo am Río Yasica.
1989: Die kleine Familie in Cabarete.
Oktober 1990: Erster Tag in der Schweiz am Bahnhof Basel.

«Ich wusste, dass meine Tochter in der Schweiz eine bessere Ausbildung bekommt als in der Dominikanischen Republik. Zudem konnte ich mit meinem Schweizer Einkommen meine Familie in der Heimat unterstützen», so Marilu. Als Jüngste von 13 Geschwistern ist sie als Einzige ausgewandert. Hilfe für die Familie, um Essen zu kaufen, Medikamente oder die Schule zu bezahlen, kam fortan meistens von ihr. Bei ihren Besuchen im Heimatland brachte sie immer Koffer voller Geschenke wie Kleider, Schuhe, Parfüms, einfache Rasierklingen oder Schokolade mit.

Damals war alles einfacher

Drei Generationen auf einem Bild.

In die Schweiz zu kommen und ein besseres Leben zu führen, um so im besten Fall auch die Familie im Heimatland versorgen zu können, davon träumen viele Menschen aus ärmeren Nationen. Doch oft ist der Weg, entwurzelt und fern der Heimat, steiniger als gedacht. Wer über keine in der Schweiz anerkannte Ausbildung verfügt – und vor allem über keine Deutschkenntnisse –, hat es schwer, in der Schweiz überhaupt Fuss zu fassen.

«Bevor ich Deutsch sprechen konnte, sprach ich bereits Italienisch.»

Weil ihr Mann Schweizer war, erhielt Marilu damals zwar kurz nach der Heirat den Schweizer Pass, konnte aber keine Unterhaltung auf Deutsch führen. Auch der Kurs in Buchhaltung an einer dominikanischen Universität brachte sie in der Schweiz nicht weiter. Da sie aber kurz nach der Einreise eine Arbeit fand, konnte sie sich schnell integrieren: Ihr Mann hatte einfach den Filialleiter der Migros im Shoppyland Schönbühl in der Nähe ihres damaligen Wohnorts gebeten, ihr eine Chance zu geben. Und so begann ihre siebenjährige Karriere als Abfüllerin in der Backwarenabteilung. Zweimal pro Woche schickte die Migros Marilu in die Klubschule in einen Deutschkurs.

1993

Nach anfänglicher Skepsis des Filialleiters bekam sie von ihm sogar Komplimente für ihre Fortschritte. «Aber bevor ich Deutsch sprechen konnte, sprach ich bereits Italienisch», erzählt sie stolz. Denn ihre Arbeitskollegen waren damals mehrheitlich Italiener.

Mutter und Tochter in der Schweiz.

Die Umstellung fand für Marilu aber auch in Sachen Haushalt statt, wobei sie oft von der Schwiegermutter unterstützt wurde. Schliesslich hatte sie in der Heimat die Kleider nur mit blossen Händen gewaschen. Waschmaschinen gab es damals in der Dominikanischen Republik höchstens für reiche Leute.

Nach 19 Jahren Ehe kam dann die Scheidung. Vor allem das Amtsdeutsch und der Umgang mit Behörden bereiteten ihr anfangs noch Kopfzerbrechen, wobei sie aber von ihrer Tochter und von Freunden unterstützt wurde. Menüs nach Schweizer Küche bereitet sie mittlerweile ziemlich gut zu. Doch dominikanisches Essen, zu dem vor allem Reis, Bohnen und Kochbananen gehören, muss trotzdem mehrmals pro Woche auf den Teller.

«Grüessäch. 12 Franke bitte.»

Mittlerweile spricht Marilu besser Berndeutsch als Hochdeutsch und bringt ihre Kunden so immer wieder zum Lächeln. Sie ist nun bereits seit 20 Jahren Verkäuferin beim Denner in Münchenbuchsee. Eine entsprechende Lehre hat sie jedoch nie gemacht. «Heute bekäme bei mir ohne Lehrabschluss niemand mehr eine Chance», sagt ihre Chefin. Nicht, dass sie mit Marilu nicht zufrieden wäre, aber heute seien halt andere Zeiten. Der Chef, der sie damals beim Denner angestellt hatte, wollte bei der Bewerbung nur wissen, ob sie vor Ort wohne und eine Arbeitsbewilligung habe. Nach einem kurzen Gespräch hatte sie die Stelle. Wenn sie nun durchs Dorf geht, wird sie von den Kundinnen und Kunden stets gegrüsst.

Allerdings, für immer hierbleiben will sie eigentlich nicht. Früher dachte sie anders. Denn als ihre Mutter noch lebte, kam es für sie nicht in Frage, zurückzukehren, da Marilu sie sonst finanziell nicht hätte unterstützen können.

Doch jetzt ist Marilu 53 oder 54 Jahre alt – so genau weiss sie das nicht, da ihr Vater, so erzählt man sich in der Familie, bei der Geburtsurkunde das falsche Jahr angegeben hatte. «Ich habe langsam keine Kraft mehr. Mein Körper tut weh, und mit meinem Diabetes weiss ich nicht, wie lange ich noch lebe», sagt sie. Die Zuckerkrankheit hat sie schon seit ihrem 25. Lebensjahr.

Jetzt, da ihre Tochter erwachsen ist, wolle sie die Zeit, die ihr noch bleibt, geniessen und mit ihrer Familie in der Dominikanischen Republik verbringen. Wann es so weit ist, kann sie noch nicht sagen, da der Umzug doch eine grosse Veränderung für sie sein wird. Und nach 30 Jahren in der Schweiz wisse sie selbst nicht mehr so genau, wo sie zu Hause sei.

Marilu mit zirka 15 Jahren. Das älteste vorhandene Foto.

Eine Hommage an meine Mutter Marilu

1996

Mamita, du weisst, ich möchte nicht, dass du gehst. Mein Herz will das nicht verkraften müssen. Was, wenn dir etwas zustösst? Du wärst so weit weg von mir. Doch ich weiss, dass du die Ruhe verdient hast, die du dir wünschst. Und ich verstehe deinen Wunsch, zurückzukehren, nur zu gut. Als Kind fragte ich euch immer, warum wir nicht geblieben sind. Wer will schon nicht seinen Lebensabend in der Karibik verbringen. Darum lass’ ich dich gehen, wenn es sein muss. In der Hoffnung, du kommst zurück, oder ich kann dir irgendwann folgen. In Liebe, deine Tochter Domenique.

Unsere ferne Heimat, die Dominikanische Republik

  • Hispaniola: Die Dominikanische Republik umfasst zwei Drittel der Insel Hispaniola, die zur Inselgruppe der Grossen Antillen in der Karibik gehört. Das westliche Drittel der Insel gehört zu Haiti.
  • Christoph Kolumbus: Der italienische Seefahrer entdeckte die Insel am 5. Dezember 1492.
  • Landessprache: Spanisch.
  • Fläche: 48 670 km2.
  • Bevölkerung: 10,63 Millionen. Die Bevölkerung stammt hauptsächlich von frühen europäischen Einwanderern überwiegend spanischer Herkunft und von afrikanischen Sklaven ab.
  • Höchster Berg der Karibik: Pico Duarte mit 3087 Metern.
Pico Duarte; Foto: Adrian Michael
  • Älteste Stadt Amerikas: Santo Domingo, die Hauptstadt der Dominikanischen Republik, gehört zum Weltkulturerbe der UNESCO.
  • Cabarete: Kite- und Surf-Hauptstadt der Karibik.
  • Musik: Geburtsort von Bachata und Merengue.
  • Nationalsport: Baseball. 40 Prozent aller Spieler in der US-Liga stammen aus der Dominikanischen Republik.
  • Klimawandel: 10. Platz der am stärksten gefährdeten Länder der Welt.
  • Bananen und Kakao: weltgrösster Exporteur.
  • Buckelwale: In der Bucht von Samaná finden sich jedes Jahr in den Wintermonaten Herden von Buckelwalen ein, um sich zu paaren oder ihren Nachwuchs zu gebären.
  • Fauna: Zuhause von rund 7000 verschiedenen Tierarten. Über die gesamten Antillen leben auf dieser Insel am meisten Tiere, die nur dort zu finden sind.
  • Flora: Zuhause von rund 6000 verschiedenen Pflanzenarten. 2050 davon sind nur auf dieser Insel zu finden.
  • Nationalbaum: Caoba beziehungsweise Mahagoni.
Rose von Bayahíbe; Foto: Ymleon
  • Nationalblume: Rose von Bayahíbe. Die rosafarbene Kaktusblüte kommt weltweit nur in einer Region der Dominikanischen Republik vor.
  • Nationalvogel: Der Palmschwätzer oder Cigua Palmera ist nur auf der Insel Hispaniola zu Hause.
Cigua Palmera; Foto: Luis Alberto 9919
  • Enriquillo-See: grösster Salzsee der Antillen und mit seiner Lage auf 40 Metern unter dem Meeresspiegel der tiefst gelegene See der Karibik. Das Naturschutzgebiet im Westen des Landes bildet das weltweit grösste Reservat für amerikanische Krokodile. Dort zu sehen sind auch Lamantine (Seekühe), Leguane, Schildkröten oder Flamingos.
Leguan am Enriquillo See; Foto: Alina Sofia
  • Larimar: seltener türkisblauer Edelstein, der bisher nur auf dieser Insel zu finden ist.
  • Bernstein: grösstes Bernsteinvorkommen der Welt an der Bernsteinküste. Zuhause des berühmten Bernsteins, mit einer im Inneren erhaltenen Mücke, der im Science-Fiction-Film «Jurassic Park» gezeigt wurde.

Foto Buckelwal: Christopher Michel

Impressum

Konzept, Text und Produktion: Domenique Fetz – Fotos: privat – Fotos «Unsere ferne Heimat, die Dominikanische Republik»: diverse Fotografen, GNU Free Documentation License – Gesamtverantwortung: Robert Hansen, Chefredaktion – redaktion@derarbeitsmarkt.chwww.derarbeitsmarkt.ch

Created By
Domenique Fetz
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