Text: Leonie Thiel, Bilder: Veranstalter, Layout: Nico Talenta
Schon der Abstieg in den Gewölbekeller zur Ausstellung hat etwas geisterhaftes, etwas eigenartiges. Und genau dieser felsige, urzeitlich wirkende Ort passt zu der neuen Exhibition der Künstlerin Sarah Bildstein, 100 Spectres. Das Projekt entstand in enger Zusammenarbeit mit Studierenden der Universität Konstanz, die ein Jahr lang von der Entstehung der Werke bis zur finalen Ausstellung alle Facetten begleiteten und mitgestalten durften. Doch das ist nur eine von vielen ungewöhnlichen Besonderheiten, die 100 Spectres ausmacht.
Tipp: Die Ausstellung selbst besuchen - bis zum 16.02.2020 hängen die Kunstwerke im Gewölbekeller.
Das allgegenwärtige Element Wasser wird hier in seinem Facettenreichtum präsentiert und interpretiert. Dabei wird die Naturgewalt nicht in Form von Ölmalerei einiger See- oder Meeresszenen dargestellt, sondern in einer neuen, unvorhergesehenen und überraschenden Art und Weise künstlerisch ausgelegt. Auf den ersten Blick wirkt alles etwas provisorisch, die Bilder sehr abstrakt – ich frage mich: "Und das soll Kunst sein?" Doch wer die Hintergründe und die außergewöhnliche Denkarbeit hinter den Werken kennt, weiß, dass es sich definitiv um eine künstlerische Auseinandersetzung handelt. In diesem Projekt wird Kunst und Naturwissenschaft auf einzigartige Weise verbunden und das dynamische sowie wechselhafte Wesen des Wassers visuell aufbereitet. Die Werke erinnern an kristalline Strukturen von Drogen unterm Mikroskop, sie haben etwas Spukhaftes, etwas Sonderbares. Und das ist gleichzeitig das Spannende: Die Kunstwerke sind offen – jeder kann etwas anderes in ihnen sehen.
Grundlage für diese Werke sind Labor-Ergebnisse unterschiedlichster Wasserproben aus aller Welt, die die Künstlerin selbst seit 2018 sammelt oder von freiwilligen Helfern zugesendet bekommt. Dabei reichen die Proben vom Bodensee über New York bis hin zu der indonesischen Insel Borneo – da war die Anreise der Wasserentnahmen mit der Post lang und mühselig. Denn ohne ein „Security Data Sheet“ (dt. „Sicherheitsdatenblatt“) ging nix; dort wurde versichert, dass es sich bei den Proben nur um reines Wasser handelte, und nicht um irgendwelche illegalen Substanzen. Waren die Proben endlich in Deutschland angekommen, wurden sie anschließend im limnologischen Institut an der Universität Konstanz ausgewertet. Das heißt konkret: Unterschiedliche Werte im Wasser wurden getestet, unter anderem der pH-Wert, Nitrat, Sulfat und der Salzgehalt, um die Zusammensetzung des jeweiligen Wassers zu bestimmen.
Danach begann der künstlerische Übersetzungsprozess Sarah Bildsteins, die sich einen Farbschlüssel für die getesteten Werte ausdachte und sie schließlich zu Blatt brachte. Diese Vorgehensweise wird auch „Chromatographie“ (dt. „Farbenschreiben") genannt, eigentlich eine chemische Methode, die Stoffgemische in ihre Bestandteile zwischen einem Trägermaterial (hier Papier) und einer Flüssigkeit (hier Wasserproben) trennt. Die Künstlerin wählte eine aus neun Farben aus und vermischte diese wasserlösliche Tinte mit den Wasserproben. Dementsprechend stehen die Farben der Bilder für die gewonnenen Analyseergebnisse. Dabei sind die Formen komplett unbeeinflusst, sie zeigen die Zusammensetzung des Wassers in einem neuen, visuell lesbaren System.
Hört sich kompliziert an? Ist es vielleicht auch ein kleines bisschen. Aber das Team hat vorgesorgt und ein ausführliches Werkheft zur Ausstellung erarbeitet. Eine sehr informative Broschüre, die die Hintergründe der Sammlung beleuchtet. Zusätzlich ist ein Werkverzeichnis vorhanden mit kurzen Texten über die einzelnen Werke, deren Herkunftsland sowie der Bedeutung der getesteten Wasserwerte.
Das ganze Projekt ist prozessual gedacht: Bis jetzt gibt es 42 Chromatographien, von denen 30 ausgestellt werden. Allerdings soll die Sammlung im Laufe des nächsten Jahres auf 100 Bilder anwachsen. Da der Gewölbekeller nur Platz für 10 Werke bietet, werden die Bilder nach jeweils drei Wochen ausgetauscht und neu miteinander kombiniert. Das bedeutet: Du kannst die Exhibition dreimal besuchen – und immer von neuem fasziniert werden.
Sarah Bildstein wollte der großen, allgegenwärtigen Macht des Wassers, deren wir uns oft nicht bewusst sind, in ihren Werken Raum geben. Sie wollte die Geschichten der einzelnen Orte erzählen, den Facettenreichtum des Elements betonen und gleichzeitig auf die menschliche Abhängigkeit von sauberem Wasser hinweisen. Jedes biologische und gesellschaftliche Leben auf der Erde ist auf diesen Naturstoff angewiesen und jeder zivilisatorische Eingriff in sein jeweiliges Ökosystem kann fatale Folgen haben.
Dieses gemeinschaftliche Projekt, das von der Zusammenarbeit unterschiedlichster Akteure lebt, regt durch seine ungewöhnliche, neue Herangehensweise an die Themen Wasser, Kunst und Wahrnehmung zum Nachdenken an.