Zwischentöne Fotos Markus Paulußen & Texte Anke Breuer

Zuflucht

Sie hatte schon lange nichts mehr von ihm gehört. Es war jeden Tag so, als risse es ein Stück Leben mehr aus ihr. Sie kannte sein Leben. Seine Gewohnheiten. Seine Lieben. Seine Vorlieben. Seine Leidenschaften. Seine Ecken. Seine Kanten. Sie konnte sich jede Minute seines Lebens zu jeder Sekunde ihres Lebens vorstellen. Und sie war sich sicher, dass es genau so abliefe, wie sie es sich vorstellte. Sie waren so unzertrennlich zu einem Teil des anderen Selbst geworden. Und dennoch waren sie zugleich scheinbar selbstverständlich voneinander getrennt. Streng genommen war ihr Leben nie ein gemeinsames gewesen. Dabei waren sie eins. Streng genommen gab es zwei Universen. Dabei existierte nur eins. Streng genommen waren zu viele Menschen involviert. Dabei gab es nur sie zwei. Streng genommen waren sie zu erwachsen für solche Anwandlungen. Dabei folgten sie nur ihrem Gefühl. Streng genommen liebten sie sich nie. Dabei liebten sie sich wie sonst niemanden.

Irgendwann kamen beide Universen zusammen. Alle Involvierten trafen sich. Die Anwandlungen wurden doch erwachsen. Die Liebe durfte nicht stattfinden.

Nur hier. An diesem Ort. Dem Ort mit dieser Stahlhütte. Hier erschien alles wie immer. Dieser Beweis aller nicht erwachsenen Anwandlungen dieser Welt. Dieser Beweis eines einzigen Universums. Dieser Beweis eines gemeinsamen Lebens. Dieser Beweis tat nichts anderes, als für sie da zu sein. Und zu rosten.

Manchmal, wenn sie dorthin kam, erkannte sie winzige Veränderungen an ihrer Hütte. Neue Spuren. Kratzer. Aufkleber. Graffitis. Da wusste sie, auch er war hier gewesen.

Romantik

Hals über Kopf

Lippen auf Lippen.

Zunge um Zunge.

Hand in Hand.

Arm in Arm.

Bauch an Bauch.

Rücken an Rücken.

Fuß unter Fuß.

Auge in Auge.

Herz über Verstand.

Gefühl über Vernunft.

Hals über Kopf.

Verliebt über beide Ohren.

Ganz leicht

Es ist leicht,

Dich zu lieben.

Ich weiß nichts

Von Schmutzwäsche

Oder Socken in den Ecken.

Nichts von schlechter Laune

Am Morgen oder Händchenhalten

Auf dem Sofa am Abend. Vom Rotwein

Aus einem Glas, von Liebesschwüren vor

Dem Einschlafen. Vom Schlafen Rücken an

Rücken, um sich gegenseitig vor Gespenstern

Zu schützen. Vom Zusammensein. Ununterbrochen.

Mit dir. Leider. Nein. Dabei hätte ich so gerne gequetschte

Zahnpasta. Über die wir uns streiten. Ganz heftig. Haare raufend.

Denn dann, dann gäbe es eine Versöhnung. Danach. Das Sofa.

Den Rotwein. Das Händchenhalten. Liebesschwüre. Rücken

An Rücken. Gemeinsames Einschlafen. Zusammensein.

Ununterbrochen. Ich sehe Gespenster. Du fehlst.

So leicht ist es nicht, dich zu lieben. Aus der

Ferne. Komm zu mir. Bleibe. Und vergiss

Nicht deine Zahnpasta. Quetsche sie.

Denn ich will mich versöhnen.

Rücken an Rücken.

Und dich lieben.

Ganz leicht.

Regen

Er hält sanft seinen Finger auf meinen Mund.

Ich sage kein Wort mehr.

Hörst du den Regen?

Ich höre den Regen.

Spüre seinen Atem.

Rieche die Haut

Seines Finger unter meiner Nase.

Ich bin verloren.

Möchte ich ihm von meinen Ängsten erzählen?

Oder einfach nur seinen Finger annagen.

Er liegt so günstig. Und seine Haut schmeckt so gut.

Er zieht seinen Finger zurück. Nimmt mich in den Arm.

Meine Nase verliert sich in der warmen Kuhle

Unten an seinem Hals.

Es geht ihr gut, meiner Nase. Sie bekommt, was sie liebt.

Gerade.

Möchte ich ihm von meinen Ängsten erzählen?

Oder einfach nur den Moment genießen.

Ich öffne meinen Mund. Räuspere mich.

Schnell küsst er meine Lippen.

Bevor ihnen ein Wort entkommen kann.

Wie gut er schmeckt!

Ich bin verloren.

Nach diesem Kuss vergrabe ich meine Nase wieder

In seiner Kuhle. An seinem Hals. Seiner duftenden Haut.

Umklammere seine Finger mit meinen Fingern.

Ich erzähle ihm nicht von meinen Ängsten.

Ich komme einfach nicht dazu.

Sage kein Wort mehr.

Hörst du den Regen?

Flüstert er.

Abends

Abends ist sie am ärgsten.

Diese Sehnsucht.

Nicht zu bändigen.

Trotz frohen Mutes zuvor.

Dann hoffe ich am meisten.

Auf ein gutes Ende.

Ohne Hoffnung zu haben.

Und ohne ein Ende zu wollen.

Abends ist es am ärgsten.

Diese Sehnsucht.

Das Sehnen.

Die Sucht.

Nach dir.

Uns.

Einsam

Da. Da sitzt du. Lächelnd. In Gedanken. Oder denkst an nichts.

Du. Du kannst das. Immer schon. Ruhst in dir. Ich nicht.

Ich. Ich beobachte. Dich. Schon lange. Von Weitem.

Sie. Sie ist dabei. Umarmt dich.

Ihr. Ihr lacht. Gemeinsam. Seid glücklich. Ich nicht.

Wir. Wir gibt es nicht mehr. Also uns. Unglücklich.

Hier. Hier sitze ich. Beobachte dich. Beobachte euch.

Mich. Mich gibt es nicht mehr. Ohne dich. Einsam. Ich.

Worte

Kein.

Kein Wort.

Kein Wort mehr.

Kein Wort mehr darüber.

Kein Wort mehr darüber heute.

Kein Wort mehr darüber heute Nacht.

Kein Wort mehr darüber heute Nacht verlieren.

Warum?

Warum denn?

Warum denn nicht?

Warum denn nicht heut?

Warum denn nicht heut Nacht?

Warum denn nicht heut Nacht noch?

Warum denn nicht heut Nacht noch einmal?

Nein.

Nein, bitte.

Nein, bitte nicht.

Nein, bitte nicht wieder.

Nein, bitte nicht wieder so.

Nein, bitte nicht wieder so verletzend.

Nein, bitte nicht wieder so verletzend sein.

Wir?

Wir zwei?

Wir zwei Liebende?

Wir zwei Liebende verletzen?

Wir zwei Liebende verletzen uns?

Wir zwei Liebende verletzen uns immer?

Wir zwei Liebende verletzen uns immer wieder?

Ja.

Ja, wir.

Ja, wir verletzen.

Ja, wir verletzen uns.

Ja, wir verletzen uns immer.

Ja, wir verletzen uns immer wieder.

Ja, wir verletzen uns immer wieder sehr.

Lass.

Lass es.

Lass es sein.

Lass es sein heut.

Lass es sein heut Nacht.

Lass es sein heut Nacht einmal.

Lass es sein heut Nacht einmal mehr.

Nie.

Nie wieder.

Nie wieder so.

Nie wieder so gemein.

Nie wieder so gemein sein.

Nie wieder so gemein sein zueinander.

Nie wieder so gemein sein zueinander. Nie.

Kuss

Sekundentakt

Du bist. Immer bei mir.

Mein erster Gedanke. Bist du.

Wache ich auf. Bist du. Da.

Schlafe ich ein. Bist du. Dort.

Träume ich. Von dir. Überall.

Immerzu.

Im Sekundentakt.

Denke ich. An dich.

Rede ich. Mit dir.

Plane ich. Dich ein.

Liebe ich. Dich. Uns.

All das. Leider. Ohne dich.

Denn dich habe ich. Nicht mehr.

Nicht mehr gesehen.

Seit vielen Gedanken.

Du bist. Immer bei mir.

Mein erster Gedanke. Bist du.

Und doch. Bist du. Nie bei mir.

Ich denke.

Ich rede.

Ich liebe.

An dich. Mit dir. Dich.

Du. Und ich.

Wir.

Du bist. Nie. Bei mir.

Und doch. Bist du es. Immer.

Mein erster Gedanke. Bist du.

Wache ich auf. Bist du. Da.

Schlafe ich ein. Bist du. Dort.

Träume ich. Von dir. Überall.

Du.

Fehlst.

Mir.

Seit vielen Gedanken.

Mein. Ein und alles.

Du.

Zwischentöne

Gesagtes. Unausgesprochenes.

Verborgenes. Sichtbares. Blindes.

Gehörtes. Ungehörtes. Unerhörtes.

Klares. Unklares. Ungeklärtes. Trübes.

Kindliches. Erwachsenes. Sehr Erwachsenes.

Erkennbares. Unerkanntes. Verkanntes. Anerkanntes.

Sensibles. Unsensibles. Unsinn. Sinniges. Sinnliches. Sinn.

Melancholisches. Fröhliches. Lebensfrohes. Lebensmüdes. Leben.

Leben erleben. Laut. Leise. Laut. Leise. Laut.

Tonleiter. Rauf und runter. Ton in Ton. Ton.

Das A und O. Von A bis Z. CDEFGHA.

C wie Cholerisches.

D wie Drohendes.

E wie Eloquentes.

F wie Freches.

G wie Galantes.

A wie Anarchisches.

H wie Halbverklungenes.

Moll. Und Melancholisches.

Dur. E-Dur. C-Dur. Prozedur.

Durchdringen. Durchbringen. Durchringen.

Durchringen kann ich mich nicht mehr.

Durchbringen mag ich uns nimmer.

Durchdringen nicht mehr möglich.

Die Zwischentöne höre ich.

Vielleicht höre sie nur ich.

Und du sie nicht.

Mich nicht.

Ich schalte ab. Diese Töne. Dich. Mich.

Dazwischen. Darunter. Darüber. Mittendrin.

Höhne du. Über meine Töne, du. Du. Und ich.

Ich ergebe mich. Dir. Dem Unausgesprochenen.

Den Tönen. Dem Tonleiter. Dem A bis Z. A und O. Dir.

Den Zwischentönen.

In aller Ohren

Seinen besten Zwirn hat er heute angezogen. Und doch hält er sich bedeckt.

Über die vielen Gäste freut er sich. Und doch ist ihm die Unruhe nicht geheuer.

Der für ihn gedeckte Tisch gefällt seinem Bauch. Und doch bekäme er jetzt keinen Bissen runter.

Sein Klavier glänzt. Er hat es extra für diesen Abend poliert. Seinen Abend. Seinen runden Geburtstag. An dem er nicht beschenkt werden will, sondern beschenken möchte.

Seine Freunde. Seine Kollegen. Seine Gäste.

Seit seinem Studium arbeitet er an dieser Version. Der innovativen Version seines Lieblingsstücks von Schumann.

Sein Studium ist nun fast dreißig Jahre her. Seit dem ist sein Stück, sein neuer Schumann, verworfen worden, weggeworfen worden, verloren gegangen, wiedergefunden worden. Viele unzählige Male.

Dass es immer wieder zu ihm zurückkam, musste etwas bedeuten. Zumindest einmal, dass es bei ihm bleiben wollte.

Er bearbeitete sein Stück erneut. Warf es um. Warf es weg. Verlor es erneut. Fand es wieder. Ein Zeichen. Womöglich.

Und so begann er, Violine, Cello und einen Tenor mit einzubeziehen. Sie arbeiteten, übten, komponierten. Bis heute. Bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag. An dem es in die Welt sollte.

Nie wieder verworfen. Nie wieder weggeworfen. Nie wieder verloren.

Es sollte sich für immer und ewig in die Ohren der Menschen einnisten. So sehr, dass es unerheblich war, ob das Papier, auf dem es stand, gestrichen, zerrissen, vergessen wurde.

Sein Klavier glänzt. Er hat es extra für diesen Abend poliert. Seinen Abend. Seinen runden Geburtstag. An dem er nicht beschenkt werden will, sondern beschenken möchte.

Er schlägt die ersten Tasten an.

Sein Zwirn leuchtet.

Die Unruhe legt sich.

Sein Bauch fühlt sich wohl.

Er vergisst Sorgen und Ängste.

Er spielt. Er beschenkt. Er ist in seinem Element.

Und sein Stück in aller Ohren.

Endlich.

Unwiderruflich.

An seinem Tag.

Heute.

Einzellerliebe

Zwei Körper. Ein Herz.

Zwei Köpfe. Ein Gedanke.

Zwei Paar Lippen. Ein Wort.

Zwei Paar Augen. Ein Augenblick.

Zwei Paar Hände. Ein Begreifen.

Zwei Paar Füße. Ein Weg.

Zwei Innenleben. Eine Seele.

Zwei Welten. Eine Gegenwart.

Damoklesschwert

Es ist gut, dass du es weißt. Sagen die einen. Es ist blöd, dass du es weißt. Die anderen.

Ich stehe hier. Auf beiden Beinen. Fest. Sicher.

Diese Blicke. Wenn die Einen und die Anderen erfahren, was ich weiß. Über mich.

Hoffentlich geht das gut! Wieder die Einen. Alles wird gut! Die Anderen.

Ich rede. Darüber. Sachlich. Glaube ich.

Erstaunt. Die Einen. Kopfschüttelnd. Die Anderen.

„Du nimmst es aber sportlich.“ „Ich hätte Angst an deiner Stelle.“ „Was wirst du tun wenn?“ Wenn? Was? Wann?

Sportlich. Sportlich. Sportlich. Bei jeder Übung denke ich daran. Dass ich Glück habe. Im Unglück. Dass ich es lieber nicht wüsste.

Ob ich Angst habe? Ich zitiere meine Mutter: „Sorge dich nicht. Um ungelegte Eier.“

Dass ich mich nicht sorge, sage ich. Dass es mir gut geht. Dass mich mitleidige Blicke nicht stören. Dass ich die traurigen Augen ertrage.

Einmal sagte Eine: „Ich dachte, jemand wie dich träfe es nicht!“ Habe das nicht hinterfragt. Vielleicht, weil ich immer dachte: Eine wie mich trifft so etwas nicht.

Aber es ist da. Groß. Schwer. Bleiern.

Es gibt Möglichkeiten. Es bleibt einfach dort hängen. Über meinem Kopf. Oder es kommt näher. Immer ein Stück. Näher. Und trifft mich. Eine wie mich! Die hier steht! Auf beiden Beinen! Wissend! Darüber redend! Sachlich! Sportlich!

Angst? Ich? Eine wie ich? Es schwebt. Über mir.

Das Damoklesschwert.

Kopfüber

Für Ychun

Sie lächelte. Ununterbrochen.

Sie lächelte, wenn es regnete.

Sie lächelte, wenn die Sonne schien.

Sie lächelte bei meinem kläglichen Versuch, der chinesischen Sprache nach Jahren des Lernens nur annähernd beizukommen.

Sie lächelte. Sie belächelte nie. Sie lachte nie aus. Sie lachte erst recht nie laut. Sie lächelte sogar, als sie mir erzählte, wie sehr sie ihren Mann vermisste, der in Südchina arbeitete. Sie lächelte. Ihre Augen weinten.

Sie lächelte auch zum Abschied. Sagte: „Weißt du, was ich am meisten an Deutschland vermissen werde? Das Gefühl, hier nicht immerzu lächeln zu müssen.“.

Ich lächelte nicht. Sie schon. Und unsere Augen weinten.

Meisterstück

Heller, glatter Streichkörper. Gewölbter Rücken. Zarte Maserung. Wohlriechendes Material. Feiner Klangkorpus. Zart besaitet. Bist du gut gestimmt, erzeugst du Musik in meinen Ohren. Angenehme Noten. Bist du ungestimmt, erzeugst du Töne, die mich manchmal sogar erschaudern lassen. Deine Schwingungseigenschaften sind vielfältig. Wartest immer auf Resonanz. Du bist wertvoll. Sehr wertvoll. Für mich. Das Beste, was mir je gelungen ist. Mein Meisterstück. Meine Kind.

Bekehrt

Zwei Karten gewonnen. Für die Kölner Philharmonie. Herrje. Hätten es keine Kinokarten sein können? Schenke sie meiner Freundin. Sie freut sich, will aber, dass ich mitkomme. Gefangen. Wir sitzen in der Philharmonie. Ich gähne schon einmal aus Prinzip und vorsorglich, ohne dass das Orchester begonnen hat. Sitze verspannt auf dem Stuhl, hatte einen anstrengenden Tag im Büro. Orchester beginnt zu spielen. Sanft. Eher leise. Ich gähne noch einmal. Aus Prinzip. Meine Schultern entspannen sich. Ich ziehe sie nochmals zusammen. Prinzip eben. Stirn entspannt sich. Ich fühle über die Stirn. Glatt. Orchester spielt schneller. Mir kommt ein schöner Mann auf einem Pferd in den Sinn, der, die Musik wird dramatischer, auf eine ebenso schöne Frau zureitet, die sich einen Hang hinunterstürzen möchte. Stopp. Erstmal wieder ein bisschen aus Prinzip gähnen, bloß nicht interessiert schauen, und dann aus Prinzip verspannen. Was träumst du da? Du willst doch immer die gängigen alten Rollenklischees unterbrochen haben, jetzt rettet der Typ eine selbstmordgefährdete Frau, und sie leben glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage? Blödsinn. Wow. Das Orchester wird lauter. Flöten hören sich an wie eine Vogelschar. Ich lege meine Arme locker auf die Oberschenkel. Ertappe mich dabei, wie ich kurz die Augen schließe und dem Vogelgezwitscher lausche. Stopp. Du magst Vögel nicht einmal besonders. Er hat sie gerettet. Orchester leiser. Ruhiger. Einklang. Sie küssen sich leidenschaftlich. Bin ich etwa entspannt? Unfassbar. Morgen kaufe ich weitere Karten. Das Orchester bleibt noch bis zum Herbst. Gott sei Dank!

Augenblick

Ein Punkt. Ein dunkler Punkt. Noch ist er klein. Dann wird er größer. Fülliger. Dunkler. In der Mitte bleibt ein hellerer Fleck. Ein Lichtreflex. Die Umrisse des hellen Flecks zum dunklen Punkt verwischen. Was die Klarheit nicht trübt. Eher verstärkt. Nun ein Rahmen. Der dunkle Punkt mit dem hellen Fleck braucht einen Rahmen. In dem er sich bewegen kann. Oben eine starke Linie. Gebogen. Unten eine zartere Linie. Die Enden finden zusammen. Das Ganze geformt wie eine Mandel. Das Feld, in dem sich mein klarer Punkt bewegt, bleibt weiß. Der Rahmen wird mit langen, sanften Schwüngen nach oben verziert. Und mit Kürzeren am unteren Mandelrand. Jetzt schaut es mich an. Mein mandelförmiges Auge. Ein dunkler Punkt mit hellerem Fleck auf dem klaren Weiß. Es schaut nach links. Nach rechts. Oben. Unten. Bewegt sich im Raum. Zum ersten Mal. Schaut mich wieder an. Die mandelförmigen Lider schließen sich. Kurz. Fast höre ich ein Seufzen. Öffnen sich halb. In diesem Blick erkenne ich ein Lächeln. Ein Lächeln ohne einen Mund. Ohne sonstige Mimik. Bislang ohne Mund. Bislang ohne Mimik. Ich mache mich wieder an die Arbeit. Ich zeichne ein weiteres Auge. Dann Nasenflügel. Kleine Nasenlöcher. Den Nasenflügeln lasse ich etwas Luft. Damit sie sich heben und senken können. Ich spüre bereits einen Hauch. Atemluft. Auf meiner Hand. Mit dem Bleistift. Zwischen Nase und dem Mund, den es noch nicht gibt, entsteht allmählich eine kleine Landschaft. Eine Landschaft, die so oft in Vergessenheit gerät. Ich widme mich ihr immer in aller Ausgiebigkeit. Diesem Feld zwischen zwei angedeuteten Linien, die am inneren Nasenlöchern beginnen und am oberen Lippenschwung enden. Dieses schmale Feld mit zahllosen Nerven, die verrückt spielen können. Mit zahllosen Härchen. Flaum. Oder Bärten. Mit zarter, zarter empfindlicher Haut. In meinem Feld wohnt jetzt ein Mal. Ein dunkelbraunes. Mittig. Ungewöhnlich symmetrisch. Die obere Lippenlinie zeichne ich großzügig. Ich gönne mir eine Lippenlinie, wie ich sie selbst gerne hätte. Eine Lippenlinie, die sich zu küssen lohnt. Gar zum Küssen einlädt. Ohne den Rest der Lippen bislang zu kennen. Ich halte meinen Bleier ganz flach und und hauche dieser Oberlippe etwas Farbe ein, die keine Farbe ist. Den Rest der Lippe zeichne ich in einem Schwung. Lippenschwung. Die Lippen sind leicht geöffnet. Zunge und Zähne, eine Perlenkette an Zähnen, deute ich an. Wer diese Lippen küsst, wird ihre Zunge spüren. Und mit etwas Glück auch ihre Zähne. Von den wieder leicht bebenden Nasenflügeln bis zum Kinnansatz führt eine angedeutete Falte. Als sei das, was hier entsteht, nicht gerade erst zum Leben erweckt worden. Das Kinn steht leicht im Kontrast zu den sonstigen zarten Zügen. Es lässt erahnen, dass diese Augen und diese Lippen nicht nur Sanftes verheißen. Im Vergleich wirkt das Kinn geradezu mächtig. Ich setze den Stift kurz ab. Ich spüre den Atem. Ich höre das Seufzen. Ich sehe die Härchen flimmern. Sie zwinkert mir zu. Kussmund. Dann schließt sie die Augen. Die langen Wimpern liegen übereinander. Die Oberen berühren die Haut unter ihrem Auge. Streiche über sie. Und sehe, wie ihre Nasenfalte leicht zuckt. Ich denke, ich lasse sie jetzt in Ruhe. Es war ein anstrengender Nachmittag. Für sie. Und für mich. So einfach erweckt man kein Leben. Ich schaue in den Spiegel. Und erkenne Ähnlichkeiten. Meine Augen halb geöffnet. Meine Nasenflügel beben. Ich fahre mit der Zunge über meine Lippen. Setze mich erschöpft hin. Und schließe meine Augen.

Geliebter Konjunktiv

Sehr geehrter Konjunktiv,

heute möchte ich Ihnen meine Wertschätzung unbedingt auch schriftlich übermitteln. Gemäß Ihrer Regeln zu leben, zu denken, zu lieben, habe ich längst verinnerlicht. Sie erscheinen mir die einzig adäquate Lebensweise für meine Spezies zu sein. Meiner von der Realität müden, enttäuschten, desillusionierten Spezies. Man sagt einigermaßen Vernunftbegabten nach, sie könnten hervorragend sublimieren. Und da, lieber Konjunktiv, da kommen wir zu Ihnen. Wer könnte eine im Traum verzückte, zurechtgerückte Welt fernab jeder Wirklichkeit wunderbarer in Worte fassen als Sie, geschätzter Konjunktiv? Welche Zeit könnte für zu realistische Träumer passender sein als die Ihre, werter Konjunktiv? Wie könnte ich leben, gar überleben, gäbe es Sie nicht, Hochverehrter? Wäre ich nicht längst selbst zu einem Was-wäre-wenn geworden? Hätte sich meine fleischliche Hülle nicht längst verflüchtigt? Ohne Sie? So ganz ohne Sie, Liebster? Ohne Ihren unrealistischen Blick? Ohne Ihre tröstlichen Träume? Ohne Ihre surrealen Gebilde? Ohne Ihre utopischen Konstrukte? Ohne Ihre romantisierte Liebe? Gar ohne Ihre überspitzten Universen? Ohne Sie, mein Konjunktiv, wäre mein Leben nicht lebenswert. Ich führte diese sinnlosen Gespräche in der Wirklichkeit nicht, spräche ich nicht in Gedanken parallel zu mir selbst. Ich lebte nicht in dieser schrägen Sozialisation, säße ich im Traum nicht längst auf einem anderen Stern. Ich liebte diese schwierigen Menschenwesen nicht, gäbe es in meinem Leben nicht dieses eine wunderbare Wesen. Das in der Realität so nicht existierte, wären Sie nicht immer zugegen. Ich gestehe, Ihre beizeiten ähnliche Gestalt, das Konditional, ist mir grundsätzlich auch lieb. Aber fürs wahre Leben, wären wir ehrlich zueinander, nun doch zu nahe an der Wirklichkeit gebaut. Wer kann das gebrauchen, liebster Konjunktiv, wer? Die Wirklichkeit? Großer Gott! So komme ich immer wieder auf Sie zurück, Wertester. Was gäbe ich darum, Ihnen in der Realität einmal zu begegnen! Leider befürchte ich, es täte unserer Liebe einen gewissen Abbruch, wenn das Unmögliche zur Wirklichkeit würde. Damit zu leben, meine utopische Liebe an das reale Leben zu verlieren, bräche mir wahrhaftig das Herz. Also sublimiere ich in meiner eigenen Welt fleißig vor mich hin, lebe nicht für, sondern in meinen Träumen, erhöhe Sie in meinen Gedanken ins Uferlose, liebe Sie grenzenlos mit meinem ganzen Herzen! Das war nun ganz und gar nicht im Konjunktiv geschrieben, gedacht, gemeint. Sehen wir uns? Heute Nacht? Im Traum?

Ihre

A.

Zeitlos

Sie in weiß. Er in seinem besten Zwirn. Sie mit Welle. Er ohne. Sie trägt die Perlen ihrer Mutter. Über 100 Jahre alt. Er das Halstuch seines Großvaters. Aus dem 19. Jahrhundert. Beide tragen zur Feier des Tages ein Lächeln. Das sich von der Jugend nicht unterscheidet.

Sie heiraten. Obwohl sie seit 60 Jahren verheiratet sind. Sie wollten das Ehegelübde alle paar Jahre erneuern. Alle paar Jahre kam etwas dazwischen. Der erste Sohn. Der zweite Sohn. Die erste Tochter. Der Tod des Großvaters. Die Wirtschaftskrise. Die Krankheit. Die Zeit. Die Zeit. Die Zeit.

Unterdessen ist eins der Kinder, die längst selbst Kinder haben, gestorben. Wie kann das sein, fragt sie sich immer wieder. Ich wollte immer vor meinen Kindern sterben, sagt er sich immer wieder. Leben und Tod fragen nicht. Antworten aber manchmal. Und als er sie mit seinen fast 90 Jahren fragt, ob sie ihn wieder heiraten würde, sagt sie, sie hätte da ein schönes Kleid gesehen. Und ihre Schuhe von der Taufe des Enkelkindes passten noch, wenn das Wetter mitspielte. Oh, wunderbar, meint er und holt Großvaters Schal aus dem Schrank.

Sie feiern klein. Alle haben zu tun. Ein erstes Kind. Ein zweites Kind. Ein drittes Kind. Die Wirtschaftskrise. Die Krankheit. Die Zeit. Die Zeit. Die Zeit. Aber das ist für sie in Ordnung. Sie wissen es besser.

Sie in weiß. Er in seinem besten Zwirn. Sie mit Welle. Er ohne. Sie trägt die Perlen ihrer Mutter. Über 100 Jahre alt. Er trägt das Halstuch seines Großvaters. Aus dem 19. Jahrhundert. Beide tragen zur Feier des Tages ein Lächeln. Das sich von der Jugend nicht unterscheidet. Und er sagt, Küsse, Küsse sind ohnehin zeitlos.

Hundert Worte durch drei

Kommst und gehst. Wie es passt. Das nervt mich.

Will mich verlassen. Auf dich hier. Nicht verlassen werden!

Also sei lieb. Und keine Spiele!

Sei einfach da. Lebe mit mir!

Etwas ganz anderes? Das möchtest du? Anderssein ist angesagt?

Verstehe ich nicht! Bitte geh nicht! Bitte komm zurück!

Nein, heute nicht? Morgen auch nicht?

Etwas ganz anderes? Das möchtest du? Und ohne mich?

Warum denn das? Was ist falsch?

Ich mag nicht. Ohne dich sein. Was ist passiert?

Ich bin ich. Anderssein ist nicht.

Ich will nicht. Du auch nicht.

Das ist schade.

Hundert durch drei. Das funktioniert nicht.

Adieu.

Heimatlos

Wo ich herkomme, dort möchte ich auf ewig nicht zurück.

Wo ich so gern war, dort kann ich auf ewig nicht sein.

Wo ich jetzt bin, dort habe ich auf ewig keine Chance.

Wo es auf ewig einmal hin soll?

Vielleicht dorthin, wo ich herkomme?

Oder wo ich so gern war?

Oder wo ich zurzeit bin?

Wen interessiert schon die Ewigkeit?

Zurzeit?

Paradox

hier fehlt noch was...

Ein bisschen Vegas

Neulich traf ich beim Sport eine interessante Frau. Ich weiß nicht, was sie tut, wie sie lebt, ob sie glücklich ist. Sie erzählte mir, sie sei für längere Zeit in Las Vegas gewesen. Nicht ein paar Tage. Nicht ein paar Wochen. Länger. Las Vegas ist für mich ein Ort, an den ich nicht zurückkehren möchte, weil er auf mich unwirklich wirkte. Ich fragte sie daher: „Warum waren Sie so lange in Vegas?“ Alle anderen um uns herum stellten Fragen wie: „War es dort schön?“, „War es interessant?“, „War es heiß?“ Nur ich fragte: „Warum waren Sie in Vegas? Es ist dort künstlich und unwirklich.“ Und ich war die Einzige, der sie antwortete. Sie schlug die Augen nieder und sagte traurig: „Ja. Und genau deshalb war ich dort. Weil ich mit der Wirklichkeit nicht klar komme.“ Die anderen hatten sich bereits bei meiner Frage und ihrem Nicht-Antworten weggedreht. Sie fanden unser Gespräch uninteressant. Wir beide aber schauten uns an und nickten mit den Köpfen. Dann trainierten wir weiter. Ich verabschiedete mich bei ihr nicht mit einem lapidaren „Wiedersehen“, sondern mit „Lassen Sie sich von der Wirklichkeit nicht wieder einfangen. Bleiben Sie ihr fort, so lange es geht.“ Und sie verabschiedete sich mit einem „Nein, die Wirklichkeit holt mich nicht wieder ein.“ Und weiter: „Und ich wünsche Ihnen auch ein bisschen Vegas.“ „Ja“, erwiderte ich, „ein bisschen Vegas wäre gut.“

Rosa

Wir kennen uns schon ewig. Seit Jahren sehe ich sie. Morgens. Wenn sie an der Bushaltestelle wartet. Und ich mit dem Rad an ihr vorbeifahre. Sie ist immer zurechtgemacht. Im Winter trägt sie ihren Lodenmantel. Der seine besten Zeiten hinter sich hat. Ich mag es, wenn sie sich in Gedanken ihre Lederhandschuhe überstreift. Sich über ihre Haare fährt. Den Busplan liest, auch wenn sie ihn sicherlich in- und auswendig kennt. Ich kenne sie auch in- und auswendig. Sehe ihr an, ob sie fröhlich ist oder traurig. Wenn sie nervös ist, zupft sie an dem goldenen Ring ihrer Handtasche. Ihr Lidstrich sitzt immer perfekt. Und ihr Lippenstift. Dieser Lippenstift. Vielleicht lege ich mir einen ähnlichen zu. Ich schaue immer als erstes auf ihre Lippen. Dann in ihre Augen. Die mir verraten, dass sie viel nachdenkt. Nie gedankenlos ist. Ich vermute, sie ist Portugiesin. Oder Spanierin. Die dunkle Haut. Der schwarze Dutt. Aus dem kein Haar heraussticht. Sie lächelt selten. Und erscheint doch freundlich. Nie spricht sie mit einer anderen Person. Außer mit mir. Seit dieser Woche. In der ich beschloss, sie ab jetzt zu grüßen. Ihr jeden Morgen die Tageszeit zuzurufen, wenn sie da an der Haltestelle steht, und ich an ihr vorbeifahre. Manchmal winke ich dazu. Sie war nicht irritiert. Vermutlich schien es auch ihr nur konsequent. Heute winkte sie mir zuerst. Und lächelte. Ich denke, in ein paar Jahren werden wir gemeinsam einen Kaffee trinken gehen. Sie heißt übrigens Rosa. Jedenfalls nenne ich sie so. Denn schließlich kennen wir uns schon ewig.

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